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Alice Kühne

12.08.2019
Interview: Anna Weiß

Alice, die Kühne

Downhill ist nur was für echte Kerle? Von wegen! Der Radsportverband Swiss Cycling beweist es einmal mehr: Alice Kühne wird die neue Mountainbike-Nationaltrainerin in der Kategorie Downhill. Doch wer genau ist die Bündnerin, die die Schweizer Gravity Hoffnungsträger*innen für ihre Einsätze an den World Cups stärken soll? Ein Besuch.
«Walking in someone else's shoes»: Als ehemalige Rennfahrerin weiss Alice Kühne, was viele Renntermine, wenig Regeneration und häufiges Verletztsein für eine Athletin/einen Athleten mit sich bringen.
Foto: Kostas Tsutsaios
Alice Kühne
«Walking in someone else's shoes»: Als ehemalige Rennfahrerin weiss Alice Kühne, was viele Renntermine, wenig Regeneration und häufiges Verletztsein für eine Athletin/einen Athleten mit sich bringen.
Ein grauer Märzmorgen im Unterengadin. Der Bus rumpelt über die hölzerne Brücke. Mit Sgrafitti bemalte Engadinerhäuser drängen sich am Ufer des Inns auf den Schwemmkegel der Uina. Zu dem kleinen Dorf Sur En gehört ein Campingplatz, ein Landgasthof, eine Pension, einige Ferienwohnungen sowie ein Auto- und Gerümpelhandel – das weiss sogar Wikipedia. Doch neuerdings, möchte man ergänzen, auch die zweifache Master-Weltmeisterin im Downhill und neue Nationaltrainerin der Schweizer Downhill-Mannschaft: Alice Kühne.  

Auf knarzenden Stufen geht Alice zu ihrer Wohnung. Ein grosses Fenster öffnet sich auf die mit Föhren, Arven und Tannen bestandenen Hügel des Piz Ajüz. Die Uina rauscht im Hintergrund. Alice zeigt hinaus. «Die ganze Gegend um Scuol ist geprägt vom Wasser, von den unzähligen Bächen und natürlich von den über 20 Mineralquellen. Die Region hat etwas sehr Energetisches. Ich komme immer gern hierher zurück, in der Natur fühle ich mich wohl.» In Scuol liegen die Wurzeln ihrer Leidenschaft für den Downhillsport. In den späten Neunzigern zimmern einige Freunde (unter ihnen der spätere siebenfache Schweizer Meister Claudio Caluori) Downhillstrecken mit kuriosen Namen wie «Zürcher Schleuder», «Forest Gump» oder «Foppes» in die Hänge des Unterengadin. Schnell gibt Alice der Aufforderung ihrer Kumpels nach und brettert selbst mit dem Mountainbike die Trails runter. 
Alices Ausgleich zum Renngeschehen: Yoga, Meditation, Stricken oder Malen.
Foto: Kostas Tsutsaios
Alice Kühne
Alices Ausgleich zum Renngeschehen: Yoga, Meditation, Stricken oder Malen.

Von Podien und Abstellgleisen

Der Ehrgeiz packt zu: Alice absolviert Rennen um Rennen. Als 2001 die Schweizer Meisterschaften Station im Downhillpark Scuol machen sollen, trainiert sie wie verrückt. Und das bei idealen Bedingungen: Das trockene Klima im Unterengadin verspricht 300 Sonnentage pro Jahr und damit perfekte Trainingsläufe für die Schweizerin. Doch am Renntag kommt alles anders: Der Regen prasselt nur so darnieder, der Track verwandelt sich in einen Albtraum aus Schlamm und rutschigen Wurzeln. «Ich war so traurig – und fuhr so grottenschlecht.» Doch Alice grinst: «Lustigerweise habe ich dieses Erlebnis in eine absolute Stärke wandeln können. Viele Frauen fahren super, so lange die Strecke trocken ist – sobald es nass wird, passen sie. Das machte ich mir zunutze.» Schnell begreift sie, dass Rennen im Kopf gewonnen werden. «Was mir immer schwer fiel, waren die richtig grossen Sprünge. Hingegen war ich im 4X dafür bekannt, – oder eher berüchtigt – mein Ding durchzuziehen, meine Linie zu fahren, komme, was wolle. Ich habe da wohl an meinem eigenen Mythos gearbeitet. Und so die anderen Fahrerinnen verunsichern können.» Erfahrung und Sicherheit, die Alice Jahre später zu ihren grössten Erfolgen verhelfen: dem zweifachen Titelgewinn als Masters-Weltmeisterin im Downhill.

Doch abzusehen war der Erfolg nicht: Als sie zum Studium nach Bern zieht, steigen der Druck und die Erwartungen an sich selbst. Zu wenig Regeneration, zu viele Renntermine. Eine Verletzung reiht sich an die nächste. Es kommt zu Auseinandersetzungen mit ihren Trainern, die sie auf dem Abstellgleis parken wollen. «Es ist schon hart, wenn dir mit 24 Jahren jemand sagt, du gehörtest nun zum alten Eisen und jetzt seien die Jungen dran. Stichwort Rachel Atherton …» Alice zweifelt, verliert den Glauben an sich selbst. Als ihr am World Cup in Willingen auch noch der Downhiller gestohlen wird, schmeisst sie hin. Leistungssport – nie wieder. Es sollte lange dauern, bis sie wieder ein Mountainbike anrühren wird. 
Heute Trainingslager, morgen World Cup, übermorgen Therapiestunde: Dazwischen tankt Alice Kraft in Scuol, am liebsten an den vielen Wasserläufen oder
am Lai Nair.
Foto: Kostas Tsutsaios
Alice Kühne
Heute Trainingslager, morgen World Cup, übermorgen Therapiestunde: Dazwischen tankt Alice Kraft in Scuol, am liebsten an den vielen Wasserläufen oder
am Lai Nair.

Parallelen

Die folgenden zwei Jahre konzentriert sich die Schweizerin auf ihr Studium, belegt Weiterbildungen in Psychologie und Sportwissenschaften. Sie interessiert sich für den Mensch als Ganzes, für das Zusammenspiel von Körper und Geist. Nach der Masterarbeit arbeitet Alice als Sporttherapeutin in Davos, nimmt schliesslich eine Anstellung als Psychologin in einer Klinik in Susch an, die sich auf Stressfolgeerkrankungen spezialisiert hat. Im Zuge ihrer Arbeit offenbart sich ihr die Parallele zwischen Burn Out und ihrem eigenen sportlichen Weg. «Leistungssport ist schon etwas sehr Spezielles. Du hörst nicht auf deinen Körper. Verletzt dich, stehst auf, fährst weiter.» Während dieser Zeit reflektiert sie viel und findet langsam wieder Gefallen am Mountainbiken. So viel Gefallen, dass sie schliesslich eine zweite Karriere als Rennfahrerin startet. Doch dieses Mal mit einem anderen Mindset: Erfolg definiert sie über die Zufriedenheit mit der eigenen Leistung – unabhängig vom Wettbewerb. Diese Aussage mag aus dem Mund einer Rennfahrerin seltsam klingen und als Statement einer Nationaltrainerin irritierend. Das Wesen des Wettkampfs besteht ja nun einmal im Vergleich mit anderen – oder?

«Meine Ausbildung und Erfahrung lehren mich, dass Menschen ihr Potenzial immer dann am besten ausschöpfen können, wenn sie nicht nur physisch, sondern auch mental und emotional in der richtigen Form sind. Deshalb ist es so extrem wichtig, nicht nur den Athleten zu sehen, sondern den Menschen. Mitsamt seiner Geschichte, seiner Persönlichkeit und seinen individuellen Bedürfnissen.» Als eine schmale Gratwanderung zwischen Unter- und Überforderung sieht die Bündnerin ihre Aufgabe, den Glauben der Menschen an sich selbst und ihre Fähigkeiten zu stärken. Eine stete Entwicklung sei so bereits nach wenigen Wochen erkennbar. Das sieht Alice auch bei sich selbst. Sei es zusammen mit ihren Freundinnen vom «Pink Gravity»-Team im Bikepark Livigno oder mit ihrem Bruder auf den technischen Trails im Engadin – sie geht immer einen Schritt weiter und freut sich, wenn sie beim Biken eine Herausforderung meistert. Doch manchmal habe sie noch immer die Tendenz, zu viel auf einmal zu machen.
Erfahrung und Sicherheit verhelfen Alice zu ihrem grössten Erfolg: Die ehemalige Rennfahrerin ist zweifache Weltmeisterin in der Masters-Kategorie Downhill.
Foto: Kostas Tsutsaios
Alice Kühne
Erfahrung und Sicherheit verhelfen Alice zu ihrem grössten Erfolg: Die ehemalige Rennfahrerin ist zweifache Weltmeisterin in der Masters-Kategorie Downhill.

Machen statt meckern

«Oh, schon wieder das Telefon.» Ein kurzer Blick auf die Nummer des Anrufers und sie legt das Gerät zur Seite: «Ah, eine potentielle Partnerregion. Das wird ein längeres Gespräch.» Neben ihrer Tätigkeit als Psychologin, Sporttherapeutin und Präsidentin des Schweizerischen Verbands für Gesundheitssport und Sporttherapie ist sie gerade damit beschäftigt, eine Destination zu finden, die ihr Vorhaben einer Schweizer Meisterschaft im Downhill unterstützt. Doch es ist schwierig. Die Integralhelme und ihre vermeintlichen Rowdy-Träger passen für die meisten Verantwortlichen nicht zum Image einer familienfreundlichen Flowtrail-Region. Anders als beispielsweise in England stehen die Downhiller in der Schweiz im Schatten der Cross-Country-Fahrer. Cross-Country ist nicht nur olympisch, sondern hat mit Nino Schurter und Jolanda Neff grosse Vorbilder für die Jugend hervorgebracht. Während Cross-Country in Vereinen hochgradig organisiert ist, wird Downhill weitgehend als Individualsport betrieben. Beides will Alice ändern: Im Zuge ihrer Abschlussarbeit zur Ausbildung als diplomierte Berufstrainerin verfasst sie gerade ein Konzept zur Nachwuchsförderung im Downhillsport. Sie hofft, dadurch auch weitere Downhiller zu motivieren, sich in den Vereinen als ehrenamtliche Trainer zu engagieren. Viele wüssten gar nicht, wie viel Wissen schon bestehe. Alice hat Daten, Fakten, Methoden und Meinungen gesammelt, analysiert und reflektiert. Sie blickt über den Tellerrand hinaus, in andere Sportarten wie Ski Alpin oder Cross-Country, in andere Länder. «Seit den Erfolgen von Anne-Caroline Chausson, spätestens aber seit Loïc Bruni die Podeste der Welt und Social Media erobert hat, schauen alle nach Frankreich. Das Besondere an deren Jugendförderung ist, dass die Kids in einem Aufwasch Trial, BMX und Downhill trainieren – das kommt ihnen natürlich später hinsichtlich Technik und Form enorm entgegen.»  

Mit ihrem Engagement ist Alice seit langem ein Dreh- und Angelpunkt der Schweizer Downhillszene. Sie gründet das Frauenteam «Pink Gravity», ist integriert in die Ausbildung der Swiss Cycling Guides. Seit 2014 gehört sie der Fachkommission Swiss Gravity von Swiss Cycling an, arbeitet als Assistenztrainerin mit Lars Peyer. All diese Puzzle­stücke ihrer Biographie führen dazu, dass die Schweizerin im ­September 2018 als Expertin neben Olivier Borer die Live-Übertragung der Downhill-Weltmeisterschaften im Schweizer Fernsehen moderiert  – und zuletzt sogar das Amt der Nationaltrainerin angeboten bekommt. Sie fühlt sich geehrt – und ist sich trotzdem alles andere als sicher, ob sie diese Verantwortung übernehmen soll. Das Angebot kommt überraschend und zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Das Bewusstsein, wie viele Ressourcen diese 20-Prozent-Stelle einnehmen würde und wie viel dafür erwartet werde, lässt Alice zögern. Auf der anderen Seite könnte sie den Athleten eine sehr hohe Qualität des Trainings bieten, evidenzbasiert und ganzheitlich nach ihren eigenen Vorstellungen arbeiten. Zudem würde der Verband aufgrund ihrer Ausbildung zur Berufstrainerin Mittel von Swiss Olympic beantragen können. Mehrere Tage verbringt sie allein mit ihren Grübeleien, setzt ihre Prioritäten, giesst sie in ihre Rahmenbedingungen – und willigt schliesslich ein.

Netzwerken und Know-How

Auch in ihrer neuen Tätigkeit als Nationaltrainerin versteht sie sich als Netzwerkerin, die das Rad nicht neu erfinden muss, sondern auf der Arbeit vieler kluger Menschen aufbauen kann. «Mir ist es allein schon aus Gründen der Ressourceneffizienz wichtig, zu kooperieren. Und dabei», schmunzelt sie, «ist es manchmal tatsächlich ein Vorteil, eine Frau zu sein. Die Männer haben dann nicht so sehr das Gefühl, dass ihnen ein anderer Platzhirsch etwas wegnehmen will. Ich rede mit jedem – und kann dabei schon durchaus charmant und sympathisch sein. Und ich will ja auch dazulernen. Es liegt mir fern, die gute Arbeit anderer nur deshalb zu ignorieren oder diskreditieren, um mich zu profilieren. Ich weiss, was ich kann, ich brauche das nicht fürs Ego.»

Auch in den sozialen Netzwerken ist sie primär deshalb aktiv, um die Lebenswelt ihrer jüngeren Athleten besser zu verstehen. «Sie erwarten völlig zu Recht, dass ich weiss, wovon sie reden. Und die sozialen Netzwerke beschäftigen die Jungen sehr, und setzen sie, meines Erachtens, auch enorm unter Druck: ‹Schau mal, welche Trainingsmethode der jetzt anwendet, auf welchem Material die jetzt fährt …› Dabei weiss sie selbst am besten, welche Schwierigkeiten das Athletenleben mit sich bringt, wie ungleich die Ausgangsvoraussetzungen manchmal sind. Allein, wie unterschiedlich die Anzahl der Trainingsstunden pro Woche ausfallen (6 - 17 Stunden), sage eine Menge über den jeweiligen Hintergrund der Athleten aus. Hält ihnen ein potenter Sponsor den Rücken frei oder müssen sie nebenher arbeiten? Bekommen sie Urlaub für die World Cups? Studieren sie noch? Welchen Trainer und welches Material können sie sich leisten? Bleibt noch Geld übrig für den technischen Support im Rennen?

Bei den Frauen sei es nicht ganz so schlimm, erzählt Alice, aber die Männer seien völlig besessen von ihrem Material. Wenn sie keinen Race Support hätten, erledigten sie die ganze Einstellerei selbst, telefonierten immerzu mit dem Mechaniker ihres Vertrauens – und vergässen dabei das Wesentliche: sich zu fokussieren. «An den Rädern schrauben alle wie verrückt. Körperlich trainieren alle wie verrückt. Aber mental ist noch deutlich Luft nach oben.» Diesen Aspekt will sie als Nationaltrainerin verstärkt bearbeiten. «Es ist ein Geschenk, ihren Weg zu begleiten, sie als Athleten – vor allem aber als Menschen – wachsen zu sehen an ihren Siegen und Niederlagen.» Genau das hat auch Alice in ihrem ­Leben weitergebracht.
Alice kennt das ganze Spektrum: wie gut es sich anfühlt, auf dem Podest zu stehen. Und wie schmerzhaft ein Scheitern an den eigenen Ansprüchen sein kann.
Foto: Kostas Tsutsaios
Alice Kühne
Alice kennt das ganze Spektrum: wie gut es sich anfühlt, auf dem Podest zu stehen. Und wie schmerzhaft ein Scheitern an den eigenen Ansprüchen sein kann.
Alice kennt das ganze Spektrum: wie gut es sich anfühlt, auf dem Podest zu stehen. Und wie schmerzhaft ein Scheitern an den eigenen Ansprüchen sein kann.

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