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Unterengadin
Von Samnaun ins Val Müstair

Text: Thomas Werz
16.12.2019

Crappa, Prada, God

Drei Täler, drei alpine Landschaften: Steine, Wiesen, Wald. Ganz im Osten, wo die Schweiz an Tirol und den Vinschgau grenzt, finden Mountainbiker nicht nur fantastische Trails, sondern tauchen auch tief ein in die besondere Atmosphäre und rätoromanische Kultur des Unterengadins.
Alpencross-Autobahn: Die letzten 150 Höhenmeter hinauf zum Fimberpass sind Tragepassage. Im Sommer stauen sich hier die Alpenüberquerer.
Unterengadin Von Samnaun ins Val Müstair
Alpencross-Autobahn: Die letzten 150 Höhenmeter hinauf zum Fimberpass sind Tragepassage. Im Sommer stauen sich hier die Alpenüberquerer.
Xaver Frieser steht an der Fuorcla Val Gronda und zeigt in Richtung Südwesten auf ein breites Hochtal zwischen Piz Fenga und Piz Davo Lais. «Wie cool wäre es, Ischgl und Samnaun über eine Traverse direkt mit Scuol zu verbinden?» Sur Tuot, über allem, lautet der Arbeitstitel dieser hochalpinen Verbindung entlang der 2500-Meter-Höhenlinie im regionalen Bike-Masterplan. Maximal 700 Höhenmeter müssten die Biker selbst treten. Und das in dieser gewaltigen alpinen Kulisse. Man sieht förmlich, wie Xaver, der Bikeguide aus Scuol, vor seinem geistigen Auge die Routenführung bis zum Horizont nachzeichnet. Wir stehen zu dritt unterhalb des Piz Val Gronda neben dem etwas verwitterten Metallschild, das hier oben die Grenze zwischen der Schweiz und Tirol markiert. Und schnaufen erst einmal durch. Es ist kurz vor Mittag und die Tour hat bisher schon alles bereitgehalten, was auf Instagram sonst gerne mit dem Prädikat #epic versehen wird.

Der Tag hat früh begonnen. Im zollfreien Dorf Samnaun bleibt keine Chance auf eine steuerfreie Shoppingtour in alpinem Ambiente. Wir rollen auf unseren Bikes vorbei an Juwelieren, Duty-Free-Shops und Designer-Outlets in Richtung Bergbahn. «Die erste Bahn wäre wichtig. Es wird ein langer Tag», hatte uns Xaver am Vorabend ermahnt. Mit der zweistöckigen Gondel schweben wir in Richtung des Skigebiets Ischgl-Samnaun. Im Winter tummeln sich hier täglich Tausende Skifahrer, an diesem wolkenlosen Morgen im Frühherbst sind wir fast allein. Nach einer kurzen Flowtrail-Einlage bis zur Alp Trida und einer weiteren Liftfahrt entlässt uns die Sesselbahn am Flimssattel. Auf der gegenüberliegenden Seite wartet der Einstieg in den Velill Downhill, eine der gebauten Strecken in Richtung Ischgl, von wo ebenfalls die ersten Biker aus dem Lift steigen. «Ein schneller Run müsste doch drin sein?» Mirjam und ich sind motiviert. Xaver schaut kritisch auf die Uhr und schüttelt den Kopf. Gebaute Trails bleiben uns heute wohl verwehrt. Egal, ohne Wehmut kurbeln wir am Kamm entlang in Richtung Greitspitze. Der Blick in Richtung Westen verspricht grosses alpines Panorama, aber auch die ein oder andere Schinderei. Schon auf den ersten Metern kommen die Oberschenkel auf Betriebstemperatur. Denn der Grenzkamm zwischen Samnaun und Ischgl ist zwar für den Skitourismus bestens ausgebaut, dennoch sind die Rampen richtig steil. «Kaum zu glauben, aber die Typen beim Ironbike drücken das einfach noch hoch.» Wir schütteln den Kopf. Und schieben.
Auf der Pirsch: «Allegra». Der Jäger und seine Frau sind auf der Gamsjagd und freuen sich über den kurzen Plausch am Wegesrand.
Unterengadin Von Samnaun ins Val Müstair
Auf der Pirsch: «Allegra». Der Jäger und seine Frau sind auf der Gamsjagd und freuen sich über den kurzen Plausch am Wegesrand.
Jäger, Hirten, Schmuggler:
Schon lange vor Christi Geburt waren die Übergänge vom Paznaun ins Engadin die Lebensader der Region.

Auf den Spuren der Schmuggler

Wir passieren die Greitspitze, den Salaaser und Paliner Kopf und lassen mit jedem Meter die doch massiv von Liftanlagen verbaute «Silvretta Ski-Arena» hinter uns. Vor uns, in der sonst unberührten Berglandschaft, blitzt deren letzte Ausbaustufe in der Sonne – die Gondelstation auf dem Piz Val Gronda. Der Bau dieser Bahn war höchst umstritten, mehr als 20 Jahre lang hatten Naturschutzverbände versucht, ihn zu verhindern.  Am Zeblasjoch liegt unscheinbar und etwas heruntergekommen die alte Zollhütte. Ein Relikt aus einer Zeit, in der zwischen Tirol und dem Unterengadin auch auf Wanderwegen diverse Waren «überführt» wurden. Heute geht es meist um billige Zigaretten oder Alkohol aus den Duty-Free-Shops in Samnaun. Doch schon vor mehreren tausend Jahren nutzten Jäger, Viehhirten und später die Säumer die Übergänge zwischen dem Paznaun und Engadin. Nicht umsonst heisst eine Bike-Tour zwischen Ischgl und Samnaun «Schmuggler-Trail».

Der Anstieg vom Zeblasjoch zur Fuorcla Val Gronda gestaltet sich als erste kleine Bewährungsprobe. Der Weg durch die Schotterreisse ist teils verblockt, die letzten 200 Höhenmeter zum Pass schultern wir die Bikes. Oben erwartet uns eine weitläufige alpine Mondlandschaft, die im Osten durch den markant-schroffen Gipfel des Piz Fenga (3398 m) begrenzt wird. «Crappa» – Steine, und sonst nichts. Bis auf eine wandernde Familie sind wir allein.
Vom Pass da Costainas führt der zweite Tag der Tour ins Val Müstair. Oben noch alpin, taucht der Trail später ab zwischen Fichten und Lärchen.
Unterengadin Von Samnaun ins Val Müstair
Vom Pass da Costainas führt der zweite Tag der Tour ins Val Müstair. Oben noch alpin, taucht der Trail später ab zwischen Fichten und Lärchen.
Der Berggasthof ­Zuort diente lange als Zollstation. Heute darf man sich einen selbstgemachten Kuchen auf der Sonnenterrasse nicht entgehen lassen.
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Der Berggasthof ­Zuort diente lange als Zollstation. Heute darf man sich einen selbstgemachten Kuchen auf der Sonnenterrasse nicht entgehen lassen.

Drei Täler, ein Plan

«Diese direkte Verbindung von Samnaun nach Scuol ist natürlich ein Fernziel», sagt Xaver. Der gebürtige Bayer lebt mittlerweile seit zwölf Jahren im Engadin. Die perfekten Kajak-Bedingungen des türkisen Inns zogen ihn ins Tal. Heute ist der 36-Jährige auch familiär fest in Scuol sozialisiert. Zusammen mit Werni Dirren und George Hein betreibt er die Bike-Agentur «Supertrail Rides». Xaver hat den mittlerweile genehmigten «Mountainbike Masterplan» mit entworfen, um die drei Täler Unterengadin, Val Müstair und Samnaun für Mountainbiker attraktiver zu machen. Als Bikeguide kennt er die Nöte der Region. «Das Problem ist aktuell: Wir haben richtig gute Trails, in einer unglaublichen Landschaft – aber die meisten Mountainbiker kennen uns nur als abendlichen Etappenort auf ihrem Alpencross.» Viel zu schade. Denn jedes der Täler hat einen ganz eigenen Charakter, den es zu erkunden lohnt. Das alpin geprägte Samnaun mit seinen steilen und felsigen Bergflanken. Das Unterengadin mit dem Inn und seinen sanften und weiten Wiesenhängen. Und das Val Müstair, eine vom Wald geprägte Landschaft, naturnah und abgelegen an der Grenze zum Schweizer Nationalpark. «Crappa, Prada, God», fasst es Xaver zusammen. Die romanischen Bezeichnungen für Steine, Wiesen und Wald symbolisieren für ihn die landschaftlichen Besonderheiten der einzelnen Täler.

Unser Masterplan beschränkt sich zumindest an diesem Tag auf «Crappa» und «Prada» – als nächster Punkt unserer Agenda wartet die Abfahrt ins Val Fenga zur Heidelberger Hütte. Sie lässt uns fast vergessen, dass nach der Mittagspause noch einmal 300 Höhenmeter Stossen und Tragen hoch zum Fimberpass warten. Die Hütte selbst liegt an einer der klassischen Transalp-Routen und ist daher beliebtes Etappenziel für Heerscharen von Alpencrossern. Kurioses Detail: Sie ist die einzige Hütte des Deutschen Alpenvereins auf Schweizer Staatsgebiet.

Zum Glück ist die Transalp-Saison schon vorbei. Sonst müssten wir uns wohl in eine lange Schlange hoch zum Pass einreihen. Bis auf einen rüstigen Senior, der auf den letzten steilen Metern wacker sein E-MTB schultert, sind wir allein. «Bun di», grüsst er freundlich. Er sei aus Ramosch am Ende der Abfahrt und mache die Runde öfter, erklärt er gut gelaunt am Fimberpass – und freut sich offensichtlich, mit Xaver auf romanisch plaudern zu können.

Die anschliessende Abfahrt im oberen Bereich der beliebten Alpencross-Route hat es in sich. Felsig, teils ausgesetzt über dem Bergbach Brancla geht es hinab in das tief eingeschnittene Val Sinestra. Die «Crappa» bescheren einige fahrtechnische Raffinessen. Bis wir in den Wald eintauchen, der uns auf spassigen Wurzeltrails zum Hof Zuort führt. Der Weiler war seit dem Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert Zollstation für den Warentransit über den Fimberpass. Heute ist der historische Hof mit seinen für das Engadin typischen «Sgraffiti» an der Fassade ein Berggasthaus. «Jetzt ein Stück Kuchen und einen Kaffee!» Mirjam formuliert unsere Wünsche nach einer kurzen Rast auf der Sonnenterrasse.
«Bun di»: Nach den ­ersten Höhenmetern an Tag zwei freuen wir uns über einen Cappuccino auf der Alp Astras Tamangur.
Unterengadin Von Samnaun ins Val Müstair
«Bun di»: Nach den ­ersten Höhenmetern an Tag zwei freuen wir uns über einen Cappuccino auf der Alp Astras Tamangur.
Wenig später empfängt uns das Engadina Bassa, das Unterengadin. Der Piz Lischana leuchtet in der Abendsonne. Wir rollen durch Sent mit seinen für das Engadin so typischen, reich verzierten Häusern und treten über die «Prada», die Wiesen des Inntals, am Hang entlang in Richtung Scuol. Unten am Inn, in Sur En, biegen die Alpencrosser in die spektakuläre Uina-Schlucht mit ihrem bekannten Felsenweg ab. Wir dagegen freuen uns auf ein Bier – und darauf, die Füsse in einem der vielen Brunnen zu kühlen. In Scuol sprudelt aus 20 Quellen Mineralwasser aus dem Boden, im Brunnen vor der Bike-Villa kommt es sogar mit und ohne Kohlensäure. Das 400 Jahre alte Engadinerhaus ist das Basecamp von Supertrail Rides – und für eine Nacht unsere Herberge. Auch wenn die engen, gepflasterten Gassen und die historischen Engadinerhäuser vielleicht den Anschein eines riesigen Freilichtmuseums erwecken: Sportarten wie Snowboarden und Mountainbiken wurden hier schon früh gelebt. «Allerdings immer mit entspanntem Understatement», wie Xaver erklärt. So war Scuol in den 90ern das Epizen-trum der Schweizer Downhill-Szene, die gebaute Strecke vom Motta-Naluns genoss einen legendären Ruf. Diesen Geist wollen sie heute neu beleben. «Wir wollen jedoch nicht die x-te Flowtrail-Destination werden», sagt Xaver. Vielmehr gehe es um den Unterhalt und die Verbindung der bestehenden natürlichen Trails. «Für anspruchsvolle, fahrtechnisch versierte Tourenbiker – die das Natürliche lieben und schätzen», ergänzt Xaver.

Es ist noch dunkel, als uns das Smartphone weckt. Der zweite Tag beginnt wieder früh, und leider ohne ausgedehntes Frühstück. Zum Glück finden wir in einer Bäckerei einen Becher Kaffee und eine Engadiner Nusstorte auf die Hand. Diese Kombination bewirkt wahre Wunder. Nur auf Xaver müssen wir verzichten, er ist als Guide mit Gästen unterwegs. Das erste Zwischenziel ist S-charl, ein auf 1800 Metern gelegener Weiler im gleichnamigen Hochtal auf der Südseite des Inns. Über die Schotterstrasse entlang der Grenze des Nationalparks ist das Dörfchen von Scuol aus in gut eineinhalb Stunden mit dem Bike zu erreichen. Mit dem Postauto sind wir eine Stunde schneller.  Ab S-charl ist die Schonzeit vorbei. Doch der Start verläuft entspannt, der Fahrweg steigt flach an. Zu unserer Rechten blubbert der Bach und der Morgentau lässt die Alpwiesen in der Sonne glitzern. Zwei Pferde grasen in der Morgensonne. Im Schatten des Piz Sesvenna treten wir in Richtung Pass da Costainas. Weiter oben öffnet sich das Tal zur breiten Alp Astras. Auf der Ostseite des Tals steht hier bis auf knapp 2300 Meter der höchst gelegene Arvenwald Europas, der God Tamangur. Auf der Alp Astras geniessen wir die Ruhe und die Aussicht auf das imposante Hochtal – und einen Cappuccino mit frischer Milch aus dem Stall. 
Flow God: Die Trails durch die bewaldeten Bergflanken des Val Müstair sind schnell und verspielt – ein echter Genuss.
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Flow God: Die Trails durch die bewaldeten Bergflanken des Val Müstair sind schnell und verspielt – ein echter Genuss.

Hammer Trails im Wald

«Die haben Hammer Trails», hatte Xaver versprochen und die wichtigsten Abzweigungen in der Karte markiert. Auf der Südseite des Passes ändert sich die Landschaft erneut. Unter uns verläuft vom Ofenpass in Richtung Vinschgau das Val Müstair. Ein Durchgangstal, von der Land- und Forstwirtschaft geprägt und vom Massentourismus verschont. Nicht, dass das Tal mit dem Piz Umbrail und den anderen Dreitausendern auf der Südseite bis zum Ofenpass nicht alpin geprägt wäre. Der Vorteil ist jedoch, dass die Topographie relativ flach verläuft. «Selbst bis hoch hinaus sind viele Sachen noch fahrbar», sagt Sergio Tschenett, Inhaber der Bikeschule «Ride la Val». Der 33-Jährige schätzt die Vielseitigkeit seiner Heimat, «von technisch einfach bis ganz ruppig». An den Südhängen lassen sich die Trails vom Ofenpass bis an die Südtiroler Grenze beliebig kombinieren. Hier erwartet uns der «God», der Wald. Die ersten 200 Tiefenmeter bis zur Alp Champatsch sind noch recht steinig. Zwischen ein paar neugierigen Rindern und aufgeregten Murmeltieren cruisen wir über die Alpwiesen, dann zweigt ein schmaler Weg etwas unvermittelt und versteckt an einem Bächlein über eine wacklige Brückenkonstruktion ab. Jetzt sind wir mittendrin – im Wald. Durch die weit auseinanderstehenden Lärchen schlängelt sich der Trail bis zum Weiler Lü und von dort bis ins Tal hinab nach Santa Maria. Schnell, verspielt, flowig. Das beste: Auf der gesamten Abfahrt sind wir allein, haben die Wege für uns. «Echt der Wahnsinn!» Mirjam, die das Val Müstair bisher vor allem vom mittlerweile doch stark frequentierten Piz Umbrail kannte, ist begeistert. Mit einem fetten Grinsen im Gesicht rollen wir nach Santa Maria und können den frisch zubereiteten Capuns im Hotel Alpina nicht widerstehen. An der Abzweigung zum Umbrailpass knattert eine Gruppe Motorräder bergauf. Wir warten entspannt auf das Postauto in Richtung Ofenpass. Schräg gegenüber auf der anderen Strassenseite liegt die kleinste Whiskybar der Welt. Sehr verlockend, 300 ausgewählte Sorten – zumindest einen erdigen Singlemalt hätten wir uns sicher verdient. Am besten mit einem kräftigen Aromen-Mix aus Crappa, Prada und God.
Öffentliches Shuttle: Aus dem Val Müstair geht es mit dem Postauto bequem zurück zum Ofenpass.
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Öffentliches Shuttle: Aus dem Val Müstair geht es mit dem Postauto bequem zurück zum Ofenpass.

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