Zwischen Ofenpass und Südtirol
Am östlichsten Zipfel der Schweiz, im Herzen der Alpen: Das Val Müstair zwischen Ofenpass und der Grenze zu Südtirol verbindet schon seit vielen Jahrhunderten Kulturen und Menschen. Doch für viele Mountainbiker ist das Tal meist nur Durchgangsstation auf ihrem Alpencross. Dabei lohnt es sich unbedingt, länger in die wilde Natur einzutauchen.
Wer auf dem Ofenpass sein Bike vom Postauto lädt und die Passhöhe Süsom Givè hinter sich lässt, taucht ein in eine ursprüngliche Natur. Vor allem aber ist er ziemlich schnell allein unterwegs. «Wow, das hat schon was von Kanada», entfährt es dem Kollegen. Und tatsächlich hat die Landschaft hier an der Grenze zum Schweizer Nationalpark etwas von den kanadischen Rocky Mountains: sanft ansteigende, mit Arven, Föhren und Lärchen bewachsene Talflanken, breite Schotterflächen und darüber schroffe Gipfel. Weit im Hintergrund grüsst der schneebedeckte Ortler von Südtirol herüber. Vielleicht liegt es aber auch an der Ruhe oder der Abgeschiedenheit des Val Müstair.
«Selbst im Unterengadin steht ‹La Val› gleichbedeutend zu ‹hinterm Pass› – also ab vom Schuss», sagt Sergio Tschenett mit einem Grinsen. Für den Chef der Bikeschule «Ride La Val» ist das kein Problem. Er ist hier aufgewachsen und empfindet eine gewisse Abgeschiedenheit eher als Vorteil. Das Tal ist geprägt von der Forst- und Landwirtschaft. Und seit 2010 ist der «Parc da Natüra – Biosfera Val Müstair» auch Teil des Unesco-Biosphärenreservats Engiadina Val Müstair, zu dem auch der Nationalpark gehört. Im Gegensatz zu vielen anderen Bike-Destinationen ist man auf den Trails im Val Müstair abseits der Massen unterwegs. Meist sind es Alpencrosser, die vom Unterengadin über den Pass da Costainas ins Tal kommen und nach Süden weiterziehen. Wenn man so will, dann prägt der Transit das rätoromanische Tal seit Hunderten von Jahren. Schon die Römer nutzten das Tal für den Transport von Mensch, Vieh und Waren vom Vinschgau ins Engadin. Und selbst heute kennen viele Schweizer die knapp 20 Kilometer zwischen Pass und Landesgrenze vor allem vom Auto aus.
Zumindest was die Mountainbiker betrifft, soll sich das ändern. Mit dem Bike-Masterplan arbeiten die lokalen Biker daran, Samnaun, das Unterengadin und das Val Müstair in Zukunft über bestehende Trails noch besser zu vernetzen. «Wir haben tolle Wege, leichtere Trails im Wald, aber auch extremere Sachen», sagt Sergio. Er und seine Freunde engagieren sich fürs Mountainbiken im Val Müstair. Auf den folgenden Seiten erzählen sie, dass es sich lohnt, hier unbedingt länger als eine Nacht zu bleiben.
Zumindest was die Mountainbiker betrifft, soll sich das ändern. Mit dem Bike-Masterplan arbeiten die lokalen Biker daran, Samnaun, das Unterengadin und das Val Müstair in Zukunft über bestehende Trails noch besser zu vernetzen. «Wir haben tolle Wege, leichtere Trails im Wald, aber auch extremere Sachen», sagt Sergio. Er und seine Freunde engagieren sich fürs Mountainbiken im Val Müstair. Auf den folgenden Seiten erzählen sie, dass es sich lohnt, hier unbedingt länger als eine Nacht zu bleiben.
Nicole Tschenett
Die Welt bereisen und dennoch viel lieber daheim sein: Nicole Tschenett trägt nicht nur einen für das Val Müstair typischen Nachnamen. Sie trägt das Val im Herzen. Was ihr am meisten an ihrer Heimat gefällt: «Es ist friedlich, fast sorglos», sagt die 30-Jährige. «Die Leute leben ziemlich bescheiden.» Als Kind wuchs Nicole am Berg auf, half dem Götti beim Heumachen auf den Alpwiesen. Und nach ihrer kaufmännischen Ausbildung in Santa Maria, weiteren elf Monaten in einem Büro in Filisur und einer anschliessenden Reise durch Australien war sie felsenfest überzeugt: «Ich kann nicht den ganzen Tag im Büro sitzen.»
Trailtipp:
Passo Gallo
Passo Gallo
Das muss die 30-Jährige auch nicht. Nicole hat ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht, im Sommer auf dem Mountainbike und im Winter auf Ski. Als diplomierte Skilehrerin arbeitet sie während der Wintersaison in Scuol, im Sommer Teilzeit in einem Hotel in Tschierv. In der übrigen Zeit zeigt sie ihren Gästen als Bike-Guide die schönsten Trails zwischen Ofenpass und Stilfserjoch und betreut das Office von «Ride La Val». Bevor sie ihre Bike-Leidenschaft zum Beruf machte, verbrachte sie vier Sommer auf der Alp Mora und kochte für Älpler und Gäste. «Bündner Spezialitäten – Capuns, Nusstorte oder typische Alpverpflegung», verrät Nicole. Am liebsten kocht sie mit regionalen Zutaten – und ohne Rezept. «Alles mehr nach Gefühl, ich schlag das Kochbuch nicht auf. So kommt es jedes Mal ein bisschen anders.» Die Sommer im weiten Hochtal der Alp Mora haben die 30-Jährige geprägt. Es sei ein sehr einfaches Leben, ohne Smartphone und ohne Empfang – völlig remote. «Es ist eine kurze, aber sehr intensive Zeit», sagt Nicole. «Du wohnst im Paradies, alles ist ruhig und du bist sehr zufrieden.» Einmal pro Woche fuhr sie zum Einkaufen hinab ins Münstertal. «Da wohnen zwar auch nur 1500 Leute, aber daran musst du dich erst wieder gewöhnen.» Warum sie dieses «paradiesische Leben» auf der Alp aufgab? Als Vollblut-Bikerin fiel es ihr immer schwerer, dass jeden Tag super gelaunte Mountainbiker auf der Terrasse sassen und einen Traumtag hatten, «und ich konnte überhaupt nicht mehr fahren.»
Die Zeit auf dem Bike kann sich die 30-Jährige heute selbst einteilen. Und sie nutzt sie ausgiebig. So kann es schon mal vorkommen, dass sie auch nach einer langen Tagestour als Guide abends noch einmal ihr Bike nimmt und alleine loszieht. «Ich brauche die Zeit für mich. Ich bin ein Draussen-Mensch.»
Die Zeit auf dem Bike kann sich die 30-Jährige heute selbst einteilen. Und sie nutzt sie ausgiebig. So kann es schon mal vorkommen, dass sie auch nach einer langen Tagestour als Guide abends noch einmal ihr Bike nimmt und alleine loszieht. «Ich brauche die Zeit für mich. Ich bin ein Draussen-Mensch.»
Sergio Tschenett
Auch wenn er selbst nicht so gern im Mittelpunkt steht, dreht sich rund um Sergio Tschenett quasi die gesamte Mountainbike-Community im Val Müstair. Er hat den Verein mitbegründet, ist dessen Präsident und zudem noch der Chef der Bikeschule «Ride La Val». Seinen ersten Trail fuhr er mit einem Bike mit 20-Zoll-Laufrädern und war von dem Tag an voll angefixt. «Ich musste immer mit dem Papa mit», sagt er mit einem breiten Grinsen. Später fuhr Sergio Rennen, Marathon und Downhill. Direkt nach der Ausbildung dachte Sergio, er müsse weg aus dem Tal. Es zog ihn ins Wallis, nach Champéry. Perfekte Bedingungen für einen jungen, angefressenen Mountainbiker. «Es war richtig geil zum Biken, aber ich hab‘ allen die ganze Zeit erzählt, dass es bei uns daheim viel schöner ist.» Aber man könne das ja nicht die ganze Zeit nur erzählen, «dann musst du irgendwann auch zurück.»
Sergio ist nicht nur besessener Mountainbiker. Als Maschinenbauingenieur und Stahlbauer arbeitet er im elterlichen Betrieb und schmeisst parallel den Bikeshop «The Bike Patcher» in Müstair. Seine geheime Leidenschaft sind Steuersätze. Sergio dreht und fräst Spezialanfertigungen und Unikate für Freunde – und Weltcup-Racer. Kollegen aus Champéry fragten, ob er was machen könne, es kam eins zum anderen. «Mittlerweile kommen die Weltcup-Mechaniker auf mich zu», erzählt der Ingenieur. Gut 200 verschiedene Steuersätze hat er gezeichnet und gefertigt, alle mit einem eingravierten Hashtag samt lustigem Spruch. Die Leidenschaft fürs Velo liegt bei den Tschenetts in der Familie. Sergios Grossvater verkaufte im Tal die ersten Velos, der Vater erkannte den Trend und setzte schon früh auf Mountainbikes. «Schon seit 1991 bekommt man hier im Tal Scott Bikes», erzählt Sergio. Und jetzt geht im Tal das E-Mountainbike voll durch die Decke. Selbst die Nonnen des Benediktinerklosters St. Johann am Ortseingang von Müstair kauften vor Kurzem bei Sergio ein E-Velo.
Was seine Heimat für ihn bedeutet? Der 34-Jährige zögert nicht lange. Ganz klar, die Lage und die Topografie. «Das Tal liegt mitten in den Alpen, dennoch sind die Hänge nicht so steil und du kommst weit nach oben.» Nach wie vor könne man sich abseits der Massen bewegen. «Zehn Minuten vom Ofenpass entfernt, und du bist völlig weg vom Schuss.» Das Tal werde daher ja auch öfters von der restlichen Schweiz belächelt. «Für viele wohnen wir komplett am Ende der Welt», meint Sergio. «Aber ich sage: Wir sind im Herzen der Alpen, mitten in Europa.» Am liebsten ist er auf der Nordseite des Tals unterwegs, «Tras la Val» auf einsamen Waldtrails vom Ofenpass bis nach Müstair. «Bei uns musst du dir die Trails verdienen, nicht alles erschliesst sich auf den ersten Blick», sagt Sergio und grinst vielsagend.
Was seine Heimat für ihn bedeutet? Der 34-Jährige zögert nicht lange. Ganz klar, die Lage und die Topografie. «Das Tal liegt mitten in den Alpen, dennoch sind die Hänge nicht so steil und du kommst weit nach oben.» Nach wie vor könne man sich abseits der Massen bewegen. «Zehn Minuten vom Ofenpass entfernt, und du bist völlig weg vom Schuss.» Das Tal werde daher ja auch öfters von der restlichen Schweiz belächelt. «Für viele wohnen wir komplett am Ende der Welt», meint Sergio. «Aber ich sage: Wir sind im Herzen der Alpen, mitten in Europa.» Am liebsten ist er auf der Nordseite des Tals unterwegs, «Tras la Val» auf einsamen Waldtrails vom Ofenpass bis nach Müstair. «Bei uns musst du dir die Trails verdienen, nicht alles erschliesst sich auf den ersten Blick», sagt Sergio und grinst vielsagend.
Trailtipp: Tras la Val
Janine Clavadetscher
Eigentlich wollte Janine immer Automechanikerin werden. Aus dem eigentlichen Plan wurde Automobilkauffrau. Anstatt unter dem Auto zu liegen und mit öligen Händen an Motoren zu schrauben, kümmert sie sich heute um die Buchhaltung in der Garage samt Tankstelle in Müstair. Und um die Organisation der Bikeschule «Ride La Val». Bevor sie 2016 zu ihrem Freund Sergio nach Müstair zügelte, lebte sie eine Zeit lang in Chur, war dort aber «nicht richtig happy». Um im Tal richtig anzukommen, lernte sie romanisch, und fühlt sich hier inzwischen richtig daheim. «Ich bin eine echte Münstertalerin», sagt die 30-Jährige und muss dabei lachen, als passe sie mit ihren aktuell violett gefärbten Haaren irgendwie nicht so richtig in das sehr beschauliche und dörflich geprägte Leben. «Im Tal kennt jeder jeden. Wenn du dir einmal die Haare färbst, haben alle für eine Woche genug Gesprächsstoff.» Das sei manchmal auch ein bisschen mühsam. Dennoch schätzt Janine gerade den Zusammenhalt der Menschen: «Sie kümmern sich umeinander, unterstützen die lokale Landwirtschaft, kaufen Milch, Käse und Fleisch vom Tal.»
Zuerst konnte Janine mit dem Mountainbike gar nicht so viel anfangen, doch Freund Sergio entfachte in ihr die Bike-Leidenschaft. «Am Anfang war das recht streng», gibt sie zu. Doch mittlerweile geniesst sie selbst technische Trails mit superengen Spitzkehren. Inzwischen mag es Janine gern schnell und auch mit Airtime. Ihre Lieblingstrails liegen auf der Südseite des Tals, wie der «Hom dal Chapè», der Mann mit dem Hut. «Das Männli lupft den Hut am Einstieg, danach wird es technisch und schnell mit vielen Wurzeln und Steinen – meine perfekte Feierabendrunde.»
Sie zeigt aus dem Fenster auf den Piz Chavalatsch und schwärmt. «Hier bist du ziemlich schnell auf fast 3000 Metern und geniesst eine mega Aussicht.» Für Janine ist der Herbst die schönste Zeit im Tal, dann leuchten die Lärchen. Sie liebt es, oben am Berg zu sein und in Ruhe die Natur zu beobachten. Am liebsten verfolgt sie den imposanten Flug der Bartgeier. Dazu braucht Janine nicht einmal ein Fernglas. «Ich habe da ein Gespür, ich seh‘ immer einen.»
Sie zeigt aus dem Fenster auf den Piz Chavalatsch und schwärmt. «Hier bist du ziemlich schnell auf fast 3000 Metern und geniesst eine mega Aussicht.» Für Janine ist der Herbst die schönste Zeit im Tal, dann leuchten die Lärchen. Sie liebt es, oben am Berg zu sein und in Ruhe die Natur zu beobachten. Am liebsten verfolgt sie den imposanten Flug der Bartgeier. Dazu braucht Janine nicht einmal ein Fernglas. «Ich habe da ein Gespür, ich seh‘ immer einen.»
Trailtipp:
Hom dal chapè
Hom dal chapè
Simon Weber
Für viele Mountainbiker, vor allem für viele Alpencrosser im Sommer, ist Simon einer der wichtigsten Menschen im Val Müstair. Er kommt quasi gleich direkt nach dem Wirt, der den Alpenüberquerern nach der Abfahrt vom Pass da Costainas in Santa Maria ein kühles Bier serviert. Simon ist Bike-Mechaniker im Bikeshop «The Bike Patcher». «Du glaubst gar nicht, mit welchem Material die Leute manchmal hier ankommen. Und dann flickst du ihnen das Bike am Abend wieder zusammen, damit sie weiterkönnen», sagt er grinsend, während er ein Carbon-Laufrad zentriert. Der 34-Jährige muss nicht mehr weiter. Er hat in dem breiten Hochtal seine neue Heimat gefunden. «Ich bin der Einzige im Tal, der gut schwimmen kann», sagt er und grinst. Denn ursprünglich wuchs Simon in der Nähe des Bielersees auf. Besonders schätzt er, dass hier oben alles ein bisschen weniger hektisch läuft als im Unterland. «Die Leute sind viel weniger gestresst. Und wenn man jemanden trifft, nimmt man sich die Zeit und redet kurz.» Nur mit dem Jauer, der romanischen Mundart des Tals, hat er manchmal noch zu kämpfen. «Aber zehn Minuten schaff ich schon.»
Irgendwann hatte Simon keine Lust mehr auf Wochenendbeziehung und er entschloss sich, zu seiner Freundin Nicole ins Val zu zügeln. Für den gelernten Zimmermann der richtige Schritt. Er liebt die Berge, die Natur: «Hier oben finde ich alles, was ich gerne mache.» Sommers wie winters ist Simon am Berg unterwegs, entweder mit dem Bike, zu Fuss oder mit den Tourenski. Seine Kollegen bezeichnen ihn als «harten Höhenmeterfresser», allein im vergangenen Sommer knackte er die 150‘000 Höhenmetermarke auf dem Velo. Weg von den Bergbahnen, wo wenig oder keine Leute unterwegs sind, ist Simon in seinem Element: Er sucht die einsamen Trails, «gern auch technisch schwieriger». Und im Val Müstair findet er ziemlich viele einsame und schwierige Optionen, um sich richtig auszutoben. Im Vergleich zum Unterland musste er sich vor allem daran gewöhnen, dass der Ausgang im Tal etwas anders abläuft. «Früher ging der von Donnerstag bis Sonntag», sagt er und grinst. Heute bedeutet Ausgang für ihn vor allem, draussen zu sein, in der Natur. An seinem Lieblingsplatz am Lai da Chazfora, einem kleinen Bergsee unter dem Piz Chazfora. Am schönsten sei es hier im Herbst, wenn sich die Lärchen gelb färben. Wenn die Bikes der Alpencrosser mit neuen Pneus, frisch entlüfteten Bremsen, neuem Schaltwerk oder neu zentrierten Laufrädern auf ihre nächste Etappe warten, schnappt sich Simon sein eigenes Bike. «Dann geht es noch schnell mit dem Posti auf den Ofenpass.» Er muss nicht weiter – Simon ist im Val Müstair angekommen.
Trailtipp:
Bocchetta di Forcola
Bocchetta di Forcola