Traditionell: Alte Steinhäuser, wie hier am Eingang ins Val Federia, sind typisch für die Region Livigno.
Zollfrei durch klein-Tibet
Während sich die Welt die Köpfe über Zölle zerbricht, lockt die zollfreie Bergenklave Livigno mit flowigen Bikepark- und Naturtrails. Der einzige Wegezoll ist der ehrfürchtige Blick auf die Bergwelt.
«Jahrhundertelang war Livigno ein verstecktes Hochtal.»
Während Donald Trump mit immer neuen Zolldrohungen die Weltwirtschaft in Atem hält, herrscht in einem italienischen Hochtal seit über 500 Jahren eine bemerkenswert entspannte Einstellung zu solchen Abgaben. Livigno liegt auf 1816 Metern Höhe, flankiert von den Bergmassiven der Bernina und des Ortlers. «Klein-Tibet» nennen es seine Bewohner, eine der letzten grösseren Zollfreizonen Europas und ein hochalpines Mountainbike-Paradies. Livignos Trails kennen keine Grenzen. Spielerisch mäandern sie zwischen Italien und der Schweiz hin und her. Jahrhundertelang war das Livigno-Tal im Winter völlig von der Aussenwelt abgeschnitten und seine Bewohner auf sich allein gestellt. Was Touristen heute als malerische Abgeschiedenheit romantisieren, war für die Einheimischen lange ein harter Überlebenskampf. 1405 bestätigte die Republik Venedig erstmals die Steuerbefreiung für das abgelegene Bergtal. 1805 bekräftigte Napoleon höchstpersönlich diese Sonderregelung. Heute ist Livigno längst ein touristischer Hotspot und kein ganz billiges Pflaster mehr. Dennoch ist so manches Schnäppchen möglich. Der Cappuccino nach der Tour kostet gerade mal um die zwei Euro. Zollfrei lohnt sich auch für Autofahrer. Livigno ist vermutlich der Bike-Spot mit der höchsten Tankstellendichte. Das Einzige, was man der Region zollen sollte, ist ein ehrfürchtiger Blick auf die Bergkulisse.


Traumhafte Ausblicke auf den Lago Livigno bietet die Tour auf den Hausberg Crap de la Parè.
Panorama-Trails wie aus dem Bilderbuch
«Kommt mit, wir verschaffen uns erst mal einen Überblick», meint Arianna Canepari. Sie führt mit ihrem Mann Riccardo nicht nur das Bike-Hotel Paradise Lodge in Livignos Ortsteil San Rocco. Als ehemaliges Mitglied der Mountainbike-Nationalmannschaft kennt sie so gut wie jede Kurve der Trails rund um ihren Heimatort. Der Hausberg Crap de la Parè zählt zu ihren Favoriten. Steil ragt er vom Südwestufer des Lago di Livigno auf. Dennoch lässt er sich vom Mottolino Bikepark aus auf feinen, flowigen und bis auf ein paar Rampen nicht allzu steilen Singletrails locker erklimmen. Oben gehen Ariannas Begleitern Flo und Liesl die Augen über. Tief unten liegt einem Fjord gleich der neun Kilometer lange Lago di Livigno. In den 1960er-Jahren beschloss die Engadiner Kraftwerke AG gemeinsam mit Italien, das Spöl-Tal in einen Pumpspeichersee zu verwandeln. Die 130 Meter hohe Bogenstaumauer Punt dal Gall wurde zwischen 1965 und 1968 erbaut. Dörfer, Wiesen, Strassen und sogar eine Kirche verschwanden in den Fluten. Heute ist bei niedrigem Wasserstand nur noch ein wüstenartiges Schotterbett zu sehen. Die Grenze zwischen Italien und der Schweiz verläuft exakt durch die Staumauer. Doch es lohnt sich, nicht nur in die Tiefe zu schauen. Richtung Südwesten bleibt der Blick unweigerlich an den weissen Gletscherflanken des 3899 Meter hohen Piz Palü hängen.
Schräg gegenüber, auf der anderen Talseite, liegt Livignos Flow-Trail-Mekka, erschlossen mit den Liften des Skigebiets Carosello 3000. 50 Kilometer lang ist die legendäre «Tutti Frutti Epic» Tour – ein Mix aus Flow-Trails, Enduro-Trails und alten Saumpfaden. Trial-Veteran Hans Rey und Shaper-Legende Diddie Schneider haben hier vor gut zehn Jahren den ersten Flow-Trail-Spielplatz der Alpen angelegt. «Meine Idee war ein Mix aus Bikepark, Cross-Country-Strecke und Pumptrack», erinnert sich Hans Rey, der lange Zeit Ambassador für Livigno war. «Die Flow-Trails sollten Biker aller Disziplinen zusammenbringen, sich mit jeder Art von Mountainbike fahren lassen und vor allem viel Spass machen», bringt es Rey auf den Nenner. «Nicht steil, auch für weniger erfahrene Biker gut machbar und trotzdem cool für Könner», bringt es Arianna auf den Punkt.


Abgestürzt: Der Tiefflug durch den Mottolino Bike Park führt vorbei an einem Flugzeug-Wrack, das hier als Attraktion positioniert wurde.


Bergidylle: auf dem Weg ins Valle delle Mine


Bock auf Natur: Mit ein bisschen Glück bekommt man auf den Trails um Livigno auch den einen oder anderen kapitalen Steinbock zu Gesicht.
«Olympia 2026 – der Berg leidet»
Mehr Bikepark gibt’s gleich nebenan auf der Rückfahrt vom Crap de la Parè. Die Route führt schnurstracks in den Mottolino Bikepark. Hier kommt die Gravity-Fraktion auf ihre Kosten. Neben flowigen Trail-Sektionen warten auch eine Slopestyle Line, eine North Shore Zone und eine Jump Area. Nicht zu übersehen: Ein grosser Teil der Mottolino-Bergflanke gleicht im Frühsommer 2025 einer riesigen Baustelle. Bagger haben den halben Berg umgeackert, unter anderem eine riesige Halfpipe in den Wald- und Alpboden gegraben, Wellenbahnen und Kicker auf Erde geformt. Livigno wird im Februar 2026 die Snowboard-, Freestyle- und Ski-Cross-Wettbewerbe austragen. Für Olympia haben die Organisatoren im wahrsten Sinne die Kettensäge angeworfen. Für den olympischen Snowpark werden Bäume gefällt, Hänge planiert, neue Kunstschnee-Anlagen installiert. Ein guter Deal? Arianna wird nachdenklich, wenn sie auf diese Szenerie blickt. «Wir brauchen das nicht», ist sie sich sicher. Mit dieser Meinung ist sie in Livigno nicht allein. Die ursprünglich geplante Umweltverträglichkeitsprüfung für alle Baumassnahmen wurde ausgesetzt, um Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. Nationale Umweltverbände haben deshalb die Zusammenarbeit mit der Stiftung Milano-Cortina 2026 beendet.


Weggefährten: Die Bike Trails im Hochtal von Livigno sind einfach tierisch gut.


Flowig: Rund um Livigno warten jede Menge flowiger Trails durch lichte Lärchenwälder.
«Neben den Bikepark-Strecken warten rund um Livigno jede Menge alpine Trail-Abenteuer.»
Zurück zur Natur
«Unser eigentliches Kapital ist doch die Natur», überlegt Arianna. Und so führt die nächste Tour durch märchenhafte Lärchenwälder, in denen die Bäume graue Moosbärte tragen, hinein in ein Tal, in dem die Bergwelt noch in Ordnung ist: ins Valle delle Mine. Der Name lässt darauf schliessen, dass auch dort einst gegraben wurde – nach Eisenerz. Doch davon ist nichts mehr zu sehen. Am Tresenda-Bach entlang führt ein Natur-Trail zur Alpe Mine. Hinter der Alp weitet sich das Tal. Auf den Bergspitzen liegt noch Schnee. Plötzlich begreift man, weshalb die Region als italienisches piccolo Tibet bezeichnet wird. Im Frühsommer ist die Wiese übersät mit Blumen. Gelber Hahnenfuss und Küchenschelle, dazwischen blaue Enzian-Inselchen. Knapp 200 Höhenmeter weiter oben, auf dem Rückweg nach Livigno, ist die Bergidylle endgültig perfekt. Auf der Holzbank vor der Baitel del Motton dell’all geniesst ein Paar gerade ein verspätetes Znüni. Einst waren die Baitels Hirtenhütten, die Zuflucht boten, wenn die Hirten im Sommer mit ihren Herden hoch oben in den Bergen waren. Heute sind die urchigen Steinhütten Refugien für Wanderer und Biker auf der Suche nach einem erfüllenden Nichts. Kein WLAN, kein Check-in, stattdessen Minimalismus pur. Nur Brennholz oder ein Gaskocher. Und Stille ringsherum. Die Baitels sind kostenlose Rückzugsorte für Naturpuristen. Falls die Hütte frei ist, darf man eine Nacht bleiben. Ohne Buchung. Nur mit Schlafsack und Isomatte. Den Proviant bringt man selbst mit. Mal wartet ein Ofen mit Holz, mal eine Quelle oder sogar eine Flasche Rotwein vom Vorgänger. Was man immer bekommt: eine Ahnung davon, dass hier etwas anderes zählt. Zwischen 2000 und 3000 Metern hoch gelegen, sind die Baitels Orte, an denen man nicht nur ankommt, sondern zur Ruhe kommt.
Grenzenlose Seenrunde
«Lust auf mehr?», fragt Arianna. Mehr ursprüngliche Berglandschaft, mehr Natur-Trails. Als Hochtal zwischen den Bergmassiven ist Livigno prädestiniert für grosse Tagestouren von Tal zu Tal. «Ich würde euch gerne meine Lieblingsrunde zeigen», meint Arianna, und wackelt mit dem Kopf ungeduldig hin und her. «Aber der Winter will sich trotz Frühsommer noch nicht aus den Hochlagen verabschieden.» Die Tour durchs Val Viola, hinüber auf die Schweizer Seite nahe Poschiavo, führt hoch hinaus. Zu hoch. Oben liegt noch Schnee. 2468 Meter hoch ist der Pass da Val Viola. Vorbei am Lagh da Val Viola und am Lagh da Saoseo schlängelt sich die Runde hinüber auf die Südseite des Berninapasses. «Ich kann mich nie entscheiden, welchen der beiden Seen ich schöner finde», meint Arianna lachend. Vielleicht fährt sie die Runde deshalb so oft. Ein Dutzend Mal war sie als Guide im vergangenen Sommer mit Gruppen auf dieser Traumtour unterwegs. Doch daraus wird heute nichts.
Transalp-Klassiker Passo Trela
Als Entschädigung für das verpasste Val Viola hat Arianna eine andere hochalpine Tour parat. Die Route durch das Val Pila und über den Passo Trela zählt zu den häufig benutzten Transalp-Übergängen. Mit einem Schlenker zum Ausblick auf den Lago di San Giacomo di Fraéle und weiter durch das Hochtal zur Bocchetta Tralina sowie einer Umrundung des Bergmassivs von Monte Rocca (2810 m) und Dosso Resaccio (2719 m) geizt auch diese Runde nicht mit landschaftlichen Reizen. Sprudelnde Bergbäche, weite Alpflächen und die bizarren Felswände vieler Fast-Dreitausender machen die Tour zu einem Highlight für radelnde Bergfexe.
«Du kannst hier beides haben – Bikepark-Trails und Bike-Abenteuer in wilder Berglandschaft, in entlegenen Tälern, in denen du kaum einen Menschen triffst», sagt Arianna auf dem Wiesen-Trail vom Passo di Foscagno zurück nach Livigno. Nach drei Tagen auf dem Bike in Livigno scheint der jenseits des Atlantiks mit astronomischen Zöllen jonglierende alte Mann fast vergessen. Es ist, als würde er sich im sommerlichen Dunst auflösen, der an diesem Tag die Bergspitzen nur noch schemenhaft erscheinen lässt. Was bleibt, sind die Erinnerungen an beeindruckende, grenzüberschreitende Trails in einer freien Welt ohne Zölle. Ein fast schon paradiesisches Erlebnis in der Welt von heute.


Klassiker: Der Passo Trela zählt zu den Standardübergängen für Alpenüberquerer.


Hochalpin: Biketrails mit Gletscherblick sind in Livigno keine Rarität.




Wild: Eine raue Berglandschaft mit tiefen Schluchten wartet zwischen der Alp Trela und dem Lago di San Giacomo.


Ausblick: Auf der Bike-Tour zur Alpe Trela lohnt sich ein Abstecher zum Aussichtspunkt auf den Lago di San Giacomo di Fraéle.


Spritziges Vergnügen: die Abfahrt vom Trela Pass zur Alp Trela
Touren
Valle delle Mine
Schöne Halbtagestour in das idyllische Valle delle Mine. Auf dem Weg warten urchige Baitels, und kurz vor dem Wendepunkt im Tal lohnt sich im Hochsommer eine Einkehr in der Alpe Mine.
Fahrtechnik: 3/5
Distanz: 21,1 km
Höhendifferenz: 890 hm
Crap de la Parè
Kurze, aber lohnende Tour auf Livignos Hausberg mit grossartigem Panoramablick auf den Ort, auf den See und das Bernina-Massiv. Die Tour lässt sich perfekt mit den Trails im Mottolino Bikepark verbinden.
Fahrtechnik: 2/5
Distanz: 16,8 km
Höhendifferenz: 880 hm
Alpe Trela – Passo Foscagno
Schöne flowige Trailtour in den Bergen zwischen Livigno und Bormio mit einigen rauen und steilen Passagen. Schöner Ausblick auf den Stausee Lago di San Giacomo di Fraéle.
Fahrtechnik: 2/5
Distanz: 46,8 km
Höhendifferenz: 1310 hm
Val Viola
Lange und anspruchsvolle, aber beeindruckende hochalpine Biketour durchs Val Viola und über den Pass da Val Viola in die Region Poschiavo mit den Bergseen Lagh da Val Viola und Lagh da Saoseo. Einkehrmöglichkeit in der Saoseohütte. Über Forcola di Livigno zurück nach Livigno.
Fahrtechnik: 3/5
Distanz: 69,1 km
Höhendifferenz: 2130 hm
Karten
Supertrail Map Livigno-Bormio, 1:25’000, outdoormediashop.com
Bikeparks
livigno.eu/de/bike-park
Bikepass Livigno:
1 Tag 47 Euro, 3 Tage 105 Euro
Livigno
Charakter
Livigno liegt in der Lombardei, direkt an der Grenze zum Schweizer Kanton Graubünden. Die Touren sind vielfältig. Neben zwei Bikeparks warten zahlreiche alpine Trails. Entsprechende Rücksicht vorausgesetzt, ist das Biken auf Wanderwegen erlaubt. Nicht nur der Sprung über die Landesgrenze in die Schweiz bringt Abwechslung, auch die Landschaft zeigt sich von ihrer abwechslungsreichen Seite: hochalpin, aber nie abweisend. Wer gern mit Liftunterstützung in die Pedale tritt, wird an den Bergen Mottolino und Carosello fündig. Der Mottolino Bikepark ist seit Jahren eine feste Grösse im Gravity-Zirkus. Auf der Carosello-Seite geht es flowiger zu. Livigno liegt auf 1816 Metern Höhe – ideal fürs Höhentraining, egal, ob Profi oder ambitionierter Hobbybiker.
Saison
Mountainbiken ist in der Region von Juni bis Oktober möglich. Im Frühjahr liegt in den Hochlagen häufig noch Schnee.
Übernachten
Bike-Hotel: Paradise Lodge
Grosser Wellness-Bereich, video-überwachter Bike-Keller, Bike-Guiding
Tel. +39 0342 996 633, paradiselodge.it
Kulinarik
• Agritourismo Alpe Mine, Tel. +39 3382 544 781, agritourismoalpemine.it
• Malga Trela, Tel. +39 3406 429 847, agriturismobormio.it
• Ristoro Alpisella (am Livigno See), Tel. +39 3355 262 828, alpisella.it
Guiding
• Paradise Lodge, paradiselodge.it
• Mountainbike School Livigno (Guiding, Rental, Fahrtechnik, Shuttles), Tel. +39 339 8202035, mtblivigno.eu
Bikeshop & Verleih
• MTR Snowboard und Bike Shop, Tel. +39 342 974708, mtrlivigno.com
• I’m Sport, imsport.it
Info
APT Livigno, Tel. +39 0342 977 800, livigno.eu
Mountain Bike Holidays, bike-holidays.com
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