Was haben ein Hirtenhund und ein E-Mountainbike gemeinsam? Beide sind extrem flink im Gelände und helfen selbst einem Bike-Abenteurer, immer wieder neue Singletrails zu erforschen. Ein Entdecker-Trip im ligurischen Hinterland mit Profi Harald Philipp.
Der Mann hat ein Talent, sich zu verstecken. Schon bei meinem ersten Besuch bei Harald Philipp wähnte ich mich am Ende der Welt. Der Weg zum dem entlegenen ligurischen Weiler, in dem Harald lebt, führte tiefer und tiefer in ein Tal hinein. Der Treffpunkt heute ist ein anderer. Trotzdem kommt es mir vor wie ein Déjà-vu. Unzählige Kehren mäandern durch den Laubwald, der sich an steile Berghänge klammert. Ein unscheinbarer Holzwegweiser führt auf eine ausgewaschene Schotterpiste. Sie führt zum Rifugio Pian dell’Arma. Die Berghütte liegt inmitten welliger Bergkämme, überwuchert von mediterraner Macchia. Die felsigen Gipfel wirken wie Gischt auf den Wellenkämmen. Dahinter glitzert blau das Mittelmeer. So ruhig die Landschaft hier oben ist, so ungestüm begrüsst mich Haralds Hirtenhund Momo. Erst als der blonde Schopf seines Herrchens im Hintergrund auftaucht und ein energisches «Aus!» ertönt, lässt Momo davon ab, mich mit seiner Schnauze zu küssen. Noch ein Espresso, dann sitzen Harald und ich auch schon im Sattel. Unser Entdecker-Trip beginnt. In engen, steilen Serpentinen schraubt sich ein Trail durch den Wald hinauf zu offenen, sanften Hängen mit Meerblick. Ist Harald ein Stück voraus, hetzt Momo immer wieder zurück zu mir. Er hält uns zusammen wie eine Herde Schafe.
Harald, wie ist Momo zu seinem Namen gekommen?
Ich habe Momo vor ein paar Jahren als Welpe von einem Wanderhirten geschenkt bekommen. Der Name sollte auch für Italiener harmonisch klingen, «Fritz» wäre da wohl weniger gut gekommen. Der Name ist eine spontane Reminiszenz an die kleine, struppige Titelheldin aus Michael Endes gleichnamigem Roman. Momo kämpft gegen die Zeitdiebe und will die schönen Momente und eine gute Zeit in den Vordergrund stellen. Genau das tut auch mein Hund.
Momo liebt das Biken?
Oh ja! Das ist total cool. Momo hat genau wie ich irren Spass daran, durch den Wald zu fetzen, die Berge raufzuhecheln und runterzurasen. Ich glaube, er fühlt genau wie ich. Er bringt mich in Flow.


Was kann ich noch nicht? Wo war ich noch nicht? Mountainbiken und Leben ist für Harald dasselbe.
Die steilen Rampen und ruppigen Wiesenpassagen auf dieser Tour wären mit einem Bike ohne Motor kaum fahrbar. Doch dank E-Power ist der Gipfel des Monte della Guardia (1658 m), einer der höchsten Gipfel der Ligurischen Voralpen, bald erreicht. Der Einzige, der hier oben noch überschüssige Energie zu haben scheint, ist Momo. Kein Wunder, Wolfskrallen an seinen Hinterläufen zeugen von ausdauernden Vorfahren in seinem Stammbaum. Ein Hund, so wild und ursprünglich wie das Hinterland Liguriens. Was hält Harald hier? Einen, der mehr als ein Dutzend Jahre damit verbracht hat, ein spektakuläres Bike-Projekt mit dem nächsten zu übertrumpfen – noch exotischer, noch krasser. Einen, für den Abenteuer-Trips im Himalaya und in Nordkorea oder adrenalingetränkte Aktionen auf Klet- tersteigen in den Dolomiten beinahe Normalität waren.
Was hat dich dazu bewegt, hier sesshaft zu werden?
Im Grunde zwei Dinge. Im Himalaya hatte ich mich über den Smog geärgert, der mir den Blick auf den Achttausender Manaslu verwehrte. Gleichzeitig realisierte ich: Ich bin durch meinen Flug selbst Teil des Problems. Seitdem unternehme ich keine Fernreisen mehr. Der zweite Punkt: Der Himalaya-Trip war die grösste Tour meines Lebens. Was sollte danach noch kommen? Zeitgleich hatte ich schon länger das Gefühl, dass ich auch die Extrembefahrungen beim Bike-Bergsteigen bis an mein persönliches Limit ausgereizt hatte. Dass ich einen Punkt erreicht hatte, wo es mir selbst nicht mehr angenehm war, meine Videos anzuschauen. Das Abenteuer hier ist anders. Weniger krass. Und dennoch mit Tiefe.
Am Anfang der Coronapandemie hast du deine Wohnung in Innsbruck aufgegeben und bist mit deiner damaligen Partnerin fix in dein Haus hier in den Ligurischen Alpen gezogen.
Das war ein Experiment. Wir gingen weiter unseren Jobs nach, arbeiteten remote. Gleichzeitig versuchten wir, so gut wie möglich autark zu leben: ein Garten mit kleiner Landwirtschaft, eigene Wasser und Stromversorgung. Natürlich waren wir immer noch weit davon entfernt, wirklich als Selbstversorger zu leben. Um so etwas zu realisieren, musst du dich fünf bis sechs Jahre allein darauf konzentrieren. Dafür sass ich viel zu oft auf dem Bike. Doch das Experiment hat mir geholfen, Verantwortung zu übernehmen und die Konsequenzen meines Handelns zu erkennen und zu durchdenken.
Und jetzt?
Ich habe festgestellt, dass mir die Radikalität nur bedingt gefällt, die nötig wäre, eine autarke Lebensweise zu 100 Prozent durchzuziehen. Sie hätte etwas Dogmatisches, fast Religiöses. Das ist nicht meins. Ich würde mich dadurch von vielen Dingen ausschliessen, sozial isolieren. Ich will aber am normalen Leben teilhaben. Ich hatte vier Jahre lang kein Auto. Jetzt bin ich zu meinen Vorträgen wieder mit dem Auto unterwegs. Ich musste erkennen, dass ich keinem Veranstalter garantieren kann, dass ich rechtzeitig ankomme, wenn ich die Bahn nehme. Trotz allem hat das Experiment mein Leben verbessert.


Aufbruchstimmung: Harald Philipp liebt es, mit seinem Hirtenhund Momo die Berge im ligurischen Hinterland zu erkunden.
Eine der nächsten Stationen des Trips mit Harald ist das Örtchen Upega im südlichen Piemont. Wieder eines dieser alten Dörfer mit historischen Steinhäusern. Ein bunter Menschen-Mix sorgt für Leben. Die Alten, die gefühlt seit 100 Jahren hier leben. Junge Leute mit Hippie-Spirit und -Charme. Wieder führt ein steiler Trail hinauf in die Bergwelt der Seealpen. Hirtenhunde ohne Schäfer kümmern sich scheinbar selbstständig um verstreute Schaf- und Ziegenherden. Die Gegend wirkt wie das Saastal oder das Mattertal vor 150 Jahren, bevor der Bergtourismus begann.
Das Hinterland in Ligurien und im Piemont scheint einer der letzten Plätze in Europa zu sein, an denen man völlig frei biken kann.
Es gibt wahrscheinlich noch ein paar Plätze mehr, in den Pyrenäen zum Beispiel. Ich bin im Siegerländer Forst aufgewachsen. Meine nächste Zwischenstation war Österreich. Aber erst hier in Ligurien habe ich gespürt, dass ich als Mountainbiker kein Fremdkörper bin.
Du erkundest nicht nur vergessene Wege. Du baust auch Trails. Wie kommt das bei den Einheimischen an?
Interessant ist: Auch wenn die Gegend heute recht verlassen wirkt, leben hier schon 10‘000 Jahre länger Menschen als in den Ostalpen. Das heisst, es werden hier schon seit dreimal so langer Zeit Wege angelegt. Viele davon sind verfallen. Ich bin als Biker einer der wenigen, die in diesen Trails einen Wert sehen. Das Schöne: Ich muss keine Wege komplett erfinden. Wenn ich sie herrichte, freuen sich die Einheimischen. Sie sagen: Toll, dass ein Fremder kommt und unser Kulturgut pflegt.
Für wen baust du diese Trails?
Das ist purer Egoismus (lacht). Ich habe kein touristisches Verwertungsinteresse. Klar, ein paar dieser Wege nutzen auch andere Biker oder Tourenveranstalter. Aber manche Trails lassen sich nicht einmal schlüssig in grössere, zusammenhängende Touren einbinden. Ich habe einfach Spass herauszufinden: Was kann ich noch nicht? Wo war ich noch nicht? Wo ist das Limit dessen, was ich kann und mag. Entsprechend wähle ich meine Wege aus. Nicht nur beim Biken. Auch im übertragenen Sinne. Mountainbiken und Leben ist für mich dasselbe.
Wie machst du das logistisch mit dem E- Bike in solch abgelegenen Ecken. Geht dir da nicht irgendwann der Akku aus?
So unglaublich es klingt: Hier kannst du im entlegensten Kaff, in der einsamsten Hütte laden. Du musst längere Touren halt vorausschauend planen. Früher hatte ich in verschiedenen Tälern Batterien deponiert, heute reichen mir Ladegeräte und Range-Extender.


Haralds neue Heimat: Mediterrane Traditionen, Hippie-Spirit und die Patina vergangener Jahrhunderte vermengen sich in alten Dörfern wie hier in Upega.
Einst hat Harald Philipp als Bike-Bergsteiger auf der Suche nach krassen Abfahrten seine Bikes die Berge hochgetragen. Heute sucht er sein Limit auch beim Bergauffahren – mit dem E-Mountainbike. Während unseres Trips ist er mit einem Prototypen von Pivot mit dem neuen Bosch CX Performance Line Antrieb unterwegs. Bei beiden Marken ist er in die Entwicklung mit involviert. Er gibt Feedback, gerade was harten Dauereinsatz betrifft.
Gefühlt hast du in deinem Leben schon alles erlebt, was man mit einem Mountainbike erleben kann. Konnte dir das E-Bike neue Horizonte eröffnen?
Bikes die Berge hinaufzutragen, das hatte ich mir nicht ausgesucht. Es war beim Bike-Bergsteigen eine Notwendigkeit. Das E-Bike erlaubt es mir nun, in etwas weniger wildem Gelände eine Wildnis zu erkunden, die ich ohne E-Antrieb nur mit sehr viel mehr Aufwand erreichen würde. Ich sehe den Berg jetzt viel mehrdimensionaler. So bin ich ein kompletterer Mountainbiker geworden. Die Schwelle, auf Verdacht irgendwo hochzufahren, ist deutlich niedriger als mit einem herkömmlichen Mountainbike. Schliesslich kostet es mich nicht viel Energie.
Welche technischen Entwicklungen helfen dir bei deinen Vorhaben?
Den Extended Boost Modus beim Bosch Race Antrieb finde ich sehr fein. Die Unterstützung kommt auch ohne Krafteinsatz. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich daran gewöhnt habe. Mittlerweile schaffe ich damit knifflige technische Uphill-Passagen, von denen ich früher nur träumen konnte. Anfangs hatte ich eine gewisse Skepsis gegenüber E-Bikes. Man fährt da ja einen Computer spazieren. Ein Bike war für mich lange eine rein mechanische Maschine. Und plötzlich steckt das Ding voller Algorithmen. Unterm Strich ist das, was sie ermöglichen, jedoch eine Horizonterweiterung.
Siehst du für E-MTBs noch viel Entwicklungspotenzial?
Ja, total! Allein der Sprung vom letzten Bosch CX Motor zur neuesten Modellversion ist für mich ein riesiger Fortschritt in puncto Sensorik. Ich habe das Gefühl, auf einem Bike auf Steroiden zu sitzen. Grosses Entwicklungspotenzial sehe ich auch bei Schaltungen. Momentan muss ich defekte Schaltwerkskäfige häufiger tauschen als Reifen.
Für viele Mountainbiker ist es immer noch ein Traum, mit dem Velo die Welt zu erkunden. Harald dagegen wirkt auf den Trails in den Seealpen wie ein Grossstädter, der seinen Kiez am liebsten nicht mehr verlassen möchte. Es scheint, als hätte er einen Ort gefunden, an dem er sich nicht nur mit dem E-Bike zu Hause fühlt.
Was inspiriert dich hier am meisten? Die Ruhe, der langsamere Takt des Lebens?
Ich bin nicht wegen der Natur hier. Es sind die Menschen, ihre teils simplen Le-benswege und Lebensphilosophien. Da sind Menschen, die ich meine Freunde nenne, die haben das Tal, in dem sie leben, so gut wie nie verlassen. Die haben nicht diesen Weltbürgerweitblick, von dem ich immer dachte, den brauche ich in meinem Freundeskreis. Da sind sechsjährige Kinder und 90-jährige Greise. Egal, welches Alter, diese Menschen haben mein Leben verändert.
Inwiefern?
Ich sammle durch diese Menschen Lebenserfahrung. Jeden Tag. In Innsbruck lebte ich in einer Bubble von Outdoor-Freaks. Ein Marketing-Spezialist würde sagen: dieselbe Bildungsschicht, dasselbe Einkommen, dasselbe Alter. Ich war umgeben von Kopien meiner selbst. Das ist schön. Man fühlt sich aufgehoben, funkt auf der gleichen Wellenlänge. Aber ich bin gleichzeitig sozial verarmt. Einer meiner Nachbarn hier ist Tunnelarbeiter. Ein rauer Typ, aber mit einem feinen Herz. All das herauszufinden hat mein Leben enorm bereichert. Hier ist mein Ort. Ich bin hier angekommen.