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Unter Strom
E-Bike Hüttentour

Text: Christian Penning | Foto: Christian Penning
15.08.2020

Davos Klosters: E-Bike Hüttentour

Mächtige Dreitausender, knackige Trails und grandioses Panorama: Trotz Motorunterstützung ist die Davos Klosters E-Bike-Hüttentour eine sportliche Herausforderung. Und ein unvergessliches Abenteuer mit so mancher Überraschung.
Smaragdgrüne Juwelen – Flowtrail am Bergsee Lai da Ravais-ch Suot im Ducanmassiv.
Unter Strom E-Bike Hüttentour
Smaragdgrüne Juwelen – Flowtrail am Bergsee Lai da Ravais-ch Suot im Ducanmassiv.
«Ich dachte, mir frieren die Finger und Zehen ab!» Das Wochenende vor dieser E-Mountainbike-Durchquerung wollte Tamara eigentlich nutzen, um sich ganz entspannt ein paar Trails rund um Davos und Klosters anzusehen. «Doch aus dem sommerlichen Ausflug wurde eine Winterreise», erzählt Tamara und schüttelt sich beim Gedanken an die Ritte durch Matsch und Schnee. Auch jetzt, vier Tage später, strahlen die Nordflanken der Dreitausender zwischen Prättigau und Engadin immer noch in frisch gezuckertem Weiss. Selbst im Sommer sind kurze Wintereinbrüche in den Hochtälern rund um Davos und Klosters nicht ungewöhnlich. Doch als Tamara Günthard und Jessica Bormolini am Bahnhof von Davos ihre E-Mountainbikes startklar machen, den Luftdruck in Reifen und Federung checken und die letzten Utensilien für die dreitägige Enduro-Etappentour in ihren Rucksäcken verstauen, scheint die Sonne längst wieder versöhnlich. Trotz des frischen Morgens sollen die Temperaturen tagsüber deutlich klettern. «Perfekte Bedingungen», grinst Tamara mit einem schnellen Blick auf die Wetter-App. «Drei Tage Sonne!» Gut so, denn für das lange Wochenende haben sich die beiden Enduro-begeisterten Frauen einiges vorgenommen. Im Klartext: Knapp 130 Kilometer und an die 5500 Höhenmeter. Nicht als Tagestouren mit komfortablen Bike-Hotels als Basislager, sondern als alpine Mehrtagestour mit Übernachtungen auf urchigen Hütten. Eine Route, gespickt mit Überquerungen abgeschiedener Bergpässe und anspruchsvollen Abfahrten, mit knackigen Anstiegen, aber auch zahllosen Panoramaspots, die einladen, ein Päuschen einzulegen, durchzuschnaufen und die Eindrücke der Natur aufzusaugen.

Locker bergauf

Jessica ist aus Livigno herübergekommen. Den Sommer über fährt sie regelmässig E-Enduro-Rennen. Doch eine Mehrtagestour mit dem E-Bike im Transalp-Stil hat sie ebenso wie Tamara bislang noch nicht unternommen. Das Abenteuer kann beginnen. Nach den ersten Kilometern auf den Waldtrails hinauf nach Tschuggen wird es knackig. In engen Serpentinen mit steilen Rampen führt ein langer Trail-Anstieg von der Flüela-Passstrasse hinauf zur Bergstation Pischa. «Ohne Motor-Support wäre das die reinste Qual», meint Tamara und freut sich über ihren motorisierten Untersatz. «Und das Beste: Wir sind in der Hälfte der Zeit oben und können dort wunderschön relaxen und das Panorama geniessen.» Denn bei aller sportlichen Herausforderung, eines soll diese Tour auch sein: grossartiger Berggenuss. Auch wenn die Luft oberhalb 2000 Meter deutlich dünner wird, kurbeln die Beine erstaunlich rhythmisch – den Motoren sei Dank.
Verdiente Pause: Durchschnaufen nach dem langen und steilen Anstieg vom Dürrboden zum Scalettapass.
Unter Strom E-Bike Hüttentour
Verdiente Pause: Durchschnaufen nach dem langen und steilen Anstieg vom Dürrboden zum Scalettapass.
Alpidylle – am traumhaften Ende des Vereinatals lohnt sich eine kleine zusätz­liche Erkundungstour.
Unter Strom E-Bike Hüttentour
Alpidylle – am traumhaften Ende des Vereinatals lohnt sich eine kleine zusätz­liche Erkundungstour.
Natürlich darf auf einer dreitägigen Tour auch der Fahrspass nicht zu kurz kommen. Wunderbar flowig schlängelt sich ein Trail von der Pischa Bergstation über gut zweieinhalb Kilometer am Pischagrat entlang hinüber zum Hüreli – Traumblicke auf Davos, das Weissfluhjoch, das einsame Tal der Mönchalp und das 3085 Meter hohe Flüela Wisshorn inklusive. Immer wieder legen die Bikerinnen kurze Stopps ein, lassen ihre Augen schweifen. «Ein Blick, beinahe wie aus dem Helikopter», schwärmt Jessica. Kurz vor dem Hüreli zweigt der Trail nach Norden ab, wird vorübergehend steiler, um schliesslich über sanfte Bergwiesen zu mäandern. Alpenrosen links und rechts des Pfades sorgen für farbige Tupfer. «Wundervoll», flüstert Jessica. Tolle Trails hat sie auch bei sich zu Hause in Livigno. Doch dieser Wechsel zwischen sanften Alpwiesen und wilden Graten ist für sie etwas ganz Besonderes. Weiter! Jessica löst die Bremsen, lässt es rasant laufen, legt sich von einer Kurve in die nächste und – ups! – verliert kurz den Grip. Mit einem Salto verabschiedet sie sich in die Botanik. Doch einen Augenblick später steht sie schon wieder und klopft sich lachend Hose und Shirt ab. Die Bergwiese hat den Sturz weich abgefedert, fast als wäre Jessica in einer Schnitzelgrube aus Schaumstoffwürfeln gelandet.
«Im Vereinatal spürst du die Ruhe der Berge.»

Rösti, Rivella und Strom

Ehe der Trail in den Wald führt, geht es vorbei an sonnengegerbten Alphütten. «Heidi hätte sich hier sicher wohlgefühlt», scherzt Tamara. In der Tat: ein romantisches Kleinod wie aus dem Bergbilderbuch. Als ein Zwischenanstieg im Wald wieder Motor-Power fordert, erschrickt Tamara beim Blick auf das Display am Lenker. «Mein Akku ist gleich leer!» Die gut 1000 Höhenmeter, der steile Anstieg von Davos auf Pischa und die kurzen, knackigen Zwischenanstiege haben die Batterie fast leergesaugt. Gut, dass die Route auf dem Weg in Richtung Klosters am Gasthaus Grüenbödeli vorbeiführt. Hier gibt’s frische Power in jeder Form: Strom für die Akkus, Rösti und Rivella für die Bikerinnen. Tamara arbeitet in ihrer Freizeit auch als Bikeguide. Eine Tour konsequent zu planen, ist für sie selbstverständlich. «Aber an die Sache mit dem Akku», gesteht sie augenzwinkernd, «muss ich mich erst noch gewöhnen.» So verschwindet die Sonne bereits hinter den umliegenden Bergrücken, als die Akkus endlich genügend «Saft» getankt haben und sich die beiden wieder auf ihre Velos schwingen.
Alles im Flow – viele Abfahrten bieten für routinierte Biker enormen Fahrspass und geniale Ausblicke – so wie hier am Pischagrat.
Unter Strom E-Bike Hüttentour
Alles im Flow – viele Abfahrten bieten für routinierte Biker enormen Fahrspass und geniale Ausblicke – so wie hier am Pischagrat.
Naturnah – tierische Begegnung auf dem Weg von Monbiel ins Vereinatal.
Unter Strom E-Bike Hüttentour
Naturnah – tierische Begegnung auf dem Weg von Monbiel ins Vereinatal.
Rastplatz: Unzählige Panoramaspots wie am Pischaboden provozieren geradezu zu Pausen.
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Rastplatz: Unzählige Panoramaspots wie am Pischaboden provozieren geradezu zu Pausen.
«Naja, wir haben ein bisschen he-rumgetrödelt, aber das war es wert», lacht Jessica, als sie mit Tamara die Forstwege und Pfade zur Abzweigung ins Vereinatal entlangcruist. Als eine Lichtung den Blick freigibt, leuchten ein Stück voraus die Gletscher der Silvretta schon im Abendlicht. Doch der Tag ist für die beiden noch längst nicht zu Ende. «Berghaus Vereina» steht auf dem Schild an der Abzweigung an der Alp Untersäss. Bald wird der Weg steiler und steiler. Selbst der E-Motor nützt auf dem verblockten Trail nur wenig. Zum Abschluss der ersten Etappe ist wohl schieben angesagt. An einigen steilen Stufen bleibt den beiden nichts anderes übrig, als die Bikes zu schultern. Schwerstarbeit mit über 20 Kilogramm Zusatzgewicht! Spätestens jetzt wird Tamara und Jessica klar: Das ist der falsche Weg. «Hätten wir an der Abzweigung doch lieber rechtzeitig auf die Karte geschaut!» Umkehren? Es ist bereits spät und schon Zeit fürs Nachtessen im Berghaus Vereina. Vorsorglich informiert Tamara per Telefon den Hüttenwirt. Der weiss sofort, wo die beiden stecken. «Ihr seid auf dem Sommerweg», tönt es aus dem Lautsprecher. «Aber keine Bange, der mündet weiter oben auf die Fahrstrasse.» Bis dorthin sind es freilich noch 150 Höhenmeter. Tragen, schieben, keuchen – bis der breite, flachere Weg ans Ende des Vereinatals erreicht ist. Am Berghaus angekommen, glitzern längst die Sterne. «Ihr brauchtet wohl ein bisschen Extra-Training», frotzelt Hüttenwirt Köbi und verschwindet in der Küche, um die Bikerinnen mit hausgemachten Leckereien wieder aufzupäppeln.
Tragen, Schieben, Keuchen – der 
Wirt der Vereinahütte verschiebt das Nachtessen.

Umweg ins Paradies

Mit seinem trockenen Humor bringt er die beiden schnell wieder zum Lachen. Die Bergsommer hat der Senior einen grossen Teil seines Lebens auf der Hütte verbracht. «Meine Grossmutter», erzählt er, «hat hier 30 Sommer und Winter gelebt.» Mittlerweile ist die Hütte im Winter geschlossen, doch ab und zu kommt Köbi auch dann ins dann völlig vereinsamte Vereinatal herauf. «Zum Skitourengehen», verrät er. Die Fitness dafür holt er sich schon im Sommer – auf dem E-Bike. Kein Wunder, dass er eine Menge Tipps hat für kleine Bike-Ausflüge von der Hütte aus. Zum Beispiel ins Vernelatal. Oder ein Stück weiter, das Süser Tal hinauf.
Als die Sonne aufgeht, realisieren Tamara und Jessica, welch grandiose alpine Arena das Berghaus Vereina umgibt. «200 oder 300 Höhenmeter mehr, das ist mit dem E-MTB doch gar kein Problem», überlegt Jessica. Und so starten sie bei Sonnenaufgang zu einer unvergesslichen Extrarunde oberhalb der Hütte. «Die Ruhe der Berge lässt sich wohl kaum besser spüren als in solchen Momenten», meint Jessica, als die Sonne über den Taleinschnitt am Vereinapass klettert und das Hochtal in goldenes Licht taucht. Als sie wieder talauswärts rollen, tauchen bei Monbiel urchige Holzhäuser auf.  
Wie viele andere Ortschaften in der Region ist Monbiel ein Walserdorf. Als die ersten Walser Ende des 13. Jahrhunderts in die Region um Davos Klosters einwanderten, leisteten sie Pionierarbeit – ähnlich wie die Siedler im amerikanischen Wilden Westen ein paar Jahrhunderte später. Die tiefer gelegenen Regionen Graubündens waren damals bereits besiedelt, also mussten die Walser wildes Land an der Grenze des Bewohnbaren erkunden und kultivieren. Oft hatten sie auf ihren langen Märschen ihr gesamtes Hab und Gut dabei. Bisweilen sogar ihre Häuser. Diese transportierten sie in Einzelteilen auf dem Rücken von Pferden und Maultieren. Ursprüngliche Walserhäuser sind clevere Holzkonstruktionen, die sich ohne Nägel zusammenstecken lassen und trotzdem Wind, Wetter und hohen Schneelasten trotzen.
Ab in die Prärie – Abstecher entlang des Süserbachs am Ende des Vereinatals. Weiter zu den Jöriseen und zum Flüela Wisshorn im Hintergrund geht's nur zu Fuss.
Unter Strom E-Bike Hüttentour
Ab in die Prärie – Abstecher entlang des Süserbachs am Ende des Vereinatals. Weiter zu den Jöriseen und zum Flüela Wisshorn im Hintergrund geht's nur zu Fuss.
Kurz vor Mittag erreichen Tamara und Jessica Klosters. Über den Durannapass und den Casannapass sind es fast 1500 Höhenmeter bis hinauf zur Parsenn nördlich des Weissfluhgipfels. «Zum Glück gibt’s die Bergbahn», meint Tamara lachend, als sie ihr Bike in die Gondel der Gotschnabahn schiebt. «Eine Ankunft im Dunkeln, so wie gestern, muss ich heute nicht haben.» Schliesslich ist die Parsenn noch lange nicht das Ziel. Oben angekommen, führt ein flowiger Panorama-Trail zum Totalpsee. Als Kulisse blinken wieder die weiss angezuckerten Dreitausender der Silvretta. Und dann geht’s zur Sache. Der steile, teils verblockte Downhill hinab nach Davos stellt Fahrkönnen und Fingerkraft beim Bremsen auf die Probe. Am Davosersee blickt Tamara auf die Uhr. «Wir haben gut aufgeholt. Wir wär’s mit Beachlife?» Die Wiese an der Surfstation ist wie geschaffen für eine Gelati-Pause. Sogar ein bisschen Strandurlaub hat diese Durchquerung im Programm. Gut, dass sich die verbleibenden 16 Kilometer durchs Dischmatal zum Dürrboden mit E-Unterstützung flott und kraftsparend absolvieren lassen. Denn sich vom sonnigen Seestrand loszureissen, fällt Tamara und Jessica wirklich schwer.

Scalettapass – bergauf am Limit

Die Sonne versteckt sich noch hinter den Flanken des Piz Grialetsch, als die beiden am nächsten Morgen vom Berggasthaus Dürrboden Richtung Scalettapass aufbrechen. Ein Frühstart mit Hintergedanken, denn die Etappe ist lang – und wieder knackig. Auf dem letzten Stück hinauf zum Scalettapass kommen an einigen Passagen selbst die vortriebsstarken E-Bikes ans Limit. Dann hilft nur noch Stossen. Doch die Plackerei lohnt sich. Auf der anderen Seite wartet ein fast fünf Kilometer langer Flowtrail durch hochgebirgige Mondlandschaften zur Alp Funtauna.
Unter Strom zurück: Mit dem historischen Zug der Rhätischen Bahn geht es wieder  nach Davos.
Unter Strom E-Bike Hüttentour
Unter Strom zurück: Mit dem historischen Zug der Rhätischen Bahn geht es wieder  nach Davos.
Konditionell anspruchsvoll – einigen Anstiegen ist selbst der kraftvolle E-Antrieb nicht gewachsen.
Unter Strom E-Bike Hüttentour
Konditionell anspruchsvoll – einigen Anstiegen ist selbst der kraftvolle E-Antrieb nicht gewachsen.
Mit unvergess­lichen Eindrücken im 
historischen Zug zurück nach Davos.
Erst flach, dann immer steiler, zieht sich der Weg weiter durchs baumlose Val Funtauna. Der weite Blick, die hohen Gipfel ringsum – ein Hauch von Tibet. Die Pulsfrequenz steigt. «Puh! Da soll noch einer sagen, E-Biken wäre kein Sport», schnauft Tamara an der Abzweigung zwischen Kesch-Hütte und Sertigpass. Doch es ist noch nicht geschafft. Immer wieder fordern knackige Anstiege alle Kraft von den Fahrerinnen – und den Motoren.

«Ich glaub‘, ich träume!», stammelt Jessica. Oben am Übergang auf gut 2500 Metern Höhe spiegeln sich in den tiefgrünen Bergseen Lai da Ravais-ch Sur und Suot die schroffen, bleigrauen Felsgrate des Ducanmassivs, gesäumt von Bändern grüner Alpwiesen – eine der schönsten Bergsee-Idyllen der Schweiz. Der Trail schlängelt sich versonnen am Ufer entlang und macht das Erlebnis noch intensiver. An einem grossen Boulder-Felsen parken die Durchquererinnen ihre Velos. Durchatmen!  

«Jeder Schweisstropfen war das wert», meint Tamara und geniesst die Ruhe vor dem teils ruppigen Downhill-Ritt. Ab jetzt geht’s fast nur noch bergab: auf schmalen Trails das Val da Ravais-ch hinaus, auf breiteren Wegen nach Bergün und schliesslich ganz zum Schluss auf Asphalt bis nach Filisur zum Bahnhof.  Mit einem historischen Zug der Rhätischen Bahn geht es für Tamara und Jessica wieder zurück nach Davos. Vor ihrem Fenster zieht die imposante Zügenschlucht vorbei. Die Bilder mischen sich mit den Eindrücken der letzten Tage zu einem unvergesslichen Bergfilm – Arbeitstitel «Abenteuer unter Strom».

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