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Saastal alpin
gerade noch tragbar

Text: Tom Malecha | Foto: Tom Malecha
30.08.2023
«Das Abenteuer beginnt dort, wo der Plan aufhört», sagten sich René Wildhaber, Robert Portmann und Tom Malecha – und brachen auf zu einer epischen Zwei-Tage-Expedition im Saastal. Ein Unternehmen mit viel Schweiss, ein bisschen Blut, doch zum Glück ohne Tränen.
Das Saastal ist noch weitgehend ein weisser Fleck auf der Bike-Karte – in zweierlei Hinsicht. Noch ist die Destination in Velo-Kreisen wenig präsent. Und zugleich kommt man hier den schneebedeckten Gletschern so nahe wie an kaum einem anderen Ort der Alpen. Und damit ist das Saastal das ideale Ziel für ein «schnelles Abenteuer» auf dem Bike. Für mich zumindest gehört zum «Biken» auch immer ein grosser «Mountain». Und so haben wir uns aufgemacht, den weissen Flecken mit Erinnerungen und Bildern zu füllen. Mit von der Partie: Megavalanche-Veteran und Naturliebhaber René Wildhaber und der bikende Landwirt Robert Portmann. Die Idee: ein Kontrastprogramm mit einer wilden Mischung aus alpinem Velo-Abenteuer und Konsum-Biken mit Liftunterstützung. Denn beides ist möglich im Saastal.
Foto: Tom Malecha
Saastal alpin gerade noch tragbar
Foto: Tom Malecha
Saastal alpin gerade noch tragbar
Felsen, Geröll und dicke Steine – jetzt ist Tragen angesagt.
Foto: Tom Malecha
Saastal alpin gerade noch tragbar
Trial-Skills sind auf dieser Tour von Vorteil.
Anfang Juli wird es konkret. Unser erstes Zwischenziel: der Mattmark-Stausee, ein echter «Kraftort» am Ende des Saastals. Schliesslich werden hier im Jahr rund 650 Millionen Kilowattstunden Strom produziert. Am südlichsten Ende des Sees geht es aufwärts. Zunächst noch pedalierend, dann schiebend. Und schon bald liegt das Bike zum ersten Mal auf den Schultern. Wo es eine ganze Weile bleiben wird. Der Schweiss läuft herunter, wir stolpern bergauf. Die dünne Luft auf fast 3000 Metern ist wenig hilfreich. Wir sind heilfroh, als uns oben am Pass ein italienischer Wegweiser begrüsst und verkündet «Bivacco Antigine: 1 minuto». Die Biwakhütte dockt wie ein Raumschiff auf 2837 Metern Höhe am Hang an. Bis zu zwölf Wanderer, Bergsteiger oder eben Biker finden hier Unterschlupf. Wer zuerst kommt, schläft auch hier. Oder ergattert zumindest eine Matratze. Wir haben Glück: Ausser zwei niederländischen Wanderern ist niemand da. Das Biwak wurde vor Kurzem erst neu gebaut. Und trotzdem: Wind und Wetter haben bereits dafür gesorgt, dass sich die Tür verzogen hat und nicht mehr schliesst. Für René und Robert nicht akzeptabel. Sie klopfen, drücken, biegen. Bis sich die Tür irgendwann gar nicht mehr öffnet. Wir sind eingesperrt.
Foto: Tom Malecha
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Das Bivacco Antigine auf dem Ofentalpass wird für diese Nacht unser Zuhause sein.
Die Stimmung oszilliert zwischen Ratlosigkeit und Besorgnis. Bis es Robert gelingt, eines der Fenster zu öffnen, sich hindurchzuschlängeln und die Tür von aussen zu öffnen. Allgemeines Aufatmen. Aber Aufgeben liegt nicht in der Natur der beiden. Also wird weiter gehämmert – bis die Tür endlich sauber schliesst. Der Erfolg der beiden Heimwerkerkönige wird mit einem Abendessen gefeiert. Auf dem Speiseplan steht Astronautennahrung. Und so lassen wir uns neben der beeindruckenden Bergkulisse auch gefriergetrocknete Chicken Tikka und Farfalle mit Gorgonzola-Sauce schmecken.

Abfahrt oder Absturz?

Der Wecker klingelt zum Sonnenaufgang. Ein grandioser Bergsommertag bricht an. Etwas ratlos stehen wir am Einstieg in die erste «Abfahrt», wenn man diesen extrem steilen Geröllhang denn so nennen will. Für mich ist klar: Hier wird geschoben. René und Robert sind optimistischer und wagen den Ritt. Auf einer mittelgrossen Gerölllawine driften sie der Schwerkraft entgegen. Die Gravitation gewinnt. Robert gerät ins Straucheln, fällt und rutscht einige Meter über scharfe Steine. Eins zu null für den Berg.
Foto: Tom Malecha
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Driften statt Fahren – Hangbewältigung im Valle d'Antrona. René Wildhaber ist in seinem Element.
Foto: Tom Malecha
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Von nun an nur noch dritter Gang – abgerissenes Schaltwerk im ersten Downhill
Foto: Tom Malecha
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Das Erste-Hilfe-Set gehört zwingend bei jeder Tour in den Rucksack und wird auf unserer auch gebraucht.
Roberts Unterarm ziert ein gut handbreiter Schnitt. Blut quillt heraus. Also anhalten, desinfizieren, Klammerpflaster drauf. Weiter geht’s. Weil der Schotter sich als unfahrbar erwies, versuchen sich die beiden mit einem Schneefeld. René, der als Megavalanche-Veteran schon so manchen Gletscher bezwungen hat, driftet einigermassen unkontrolliert, doch auf beiden Rädern den Steilhang hinab. Robert folgt ihm, doch wieder behält die Gravitation die Oberhand. Zwei zu null für den Berg. Immerhin ist dieses Mal nur das Schaltwerk dran. Beziehungsweise ab. Mit Klebestreifen und Kabelbindern verarztet, lässt sich wenigstens noch der dritte Gang nutzen. Schieben ist hier offenbar doch die bessere Option.
«Für mich gehören zu einer gelungenen Bike-Tour das Naturerlebnis und schneebedeckte Berge. Die Route über den Ofentalpass ist fahrerisch grenzwertig – aber der erste Punkt wird voll und ganz erfüllt.»
Erst auf der Bachebene oberhalb der Alpe Laugera wird der Trail wieder als solcher erkennbar – und teilweise sogar fahrbar. Abgesehen vom Biwak und gelegentlichen Steinmännchen haben wir schon lange keine Spuren menschlicher Zivilisation mehr gesehen. Hier, am Ende des Valle Antrona, ist man fern von allem, Handy-Empfang inklusive. Und so freuen wir uns fast schon, als wir auf eine mit Beton überdeckte Wasserleitung stossen. Zum ersten Mal an diesem Tag kommen wir effizient voran. Leider endet der Flow schon bald. Die Wasserleitung mündet in einen Stollen, der mitten durch eine Felswand verläuft. Diese zu umgehen, gestaltet sich mehr als abenteuerlich. Wir klettern zwischenzeitlich fast im dritten Grad – «Free Solo» und mit den Bikes auf dem Rücken kein echter Spass.
Foto: Tom Malecha
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Die Hoffnung stirbt zuletzt – eine kurze fahrbare Passage, wir geniessen den Moment  

Der Damm der Steinböcke

Zum Glück stossen wir schon bald wieder auf die lieb gewonnenen Betonplatten. Weiter geht's zum Staudamm des grün schimmernden Lago di Cingino. Kurz davor prescht der erste Steinbock über den Weg. An der Staumauer treffen wir weitere an. Kaum zu glauben, wie diese Kletterkünstler auch in der fast senkrechten Wand Halt finden, um das Salz von den Steinen zu lecken. Vom Antronapass trennen uns laut Karte nur knapp 600 Höhenmeter. Doch die massive Felswand vor uns lässt uns ratlos. Wo soll dort ein Weg hindurchführen? Wer hat noch mal die Idee zu diesem Trip gehabt? Und wo verläuft eigentlich genau die Grenze zwischen alpiner Bike-Tour und Grössenwahn?
Foto: Tom Malecha
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Definitiv berggängiger als wir – die Steinböcke am Lago di Cingino
Foto: Tom Malecha
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Die gelben Wanderwegweiser zeugen davon, dass man zurück ist auf helvetischem Boden.
Müssige Fragen, denn ein Rückzug ist keine Option. Also das Velo geschultert und rein in den Anstieg. Der Schweiss brennt in den Augen, in der Luft ist nicht viel Sauerstoff. Ich versinke in einen grummeligen Dialog mit mir selbst. Macht das Sinn, was wir hier tun? Hätte man nicht besser das Bike zu Hause gelassen? Andererseits hasse ich Schlangen am Lift. Ist das hier also nicht genau das, was ich gesucht habe? Während ich vor mich hingrüble und keuche, machen wir weiter Höhe. Immer, wenn man glaubt, dass es kein Durchkommen mehr gibt, macht der Pfad einen unerwarteten Schlenker und schraubt sich eine weitere Etage nach oben. Es ist extrem steil. Aber zumindest wandern wir noch, und müssen nicht klettern.

Zurück in der Schweiz

Irgendwann erreichen wir den Grat. Die gelben Wanderwegweiser zeugen davon, dass man zurück ist auf helvetischem Boden. Und in der Schweiz ist ja bekanntlich alles etwas aufgeräumter. Das gilt auch für den Trail. Um das klarzustellen: Mittelmässig begabte Fahrtechniker wie ich schieben den Weg hinunter ins Furggtälli. Nur erfahrene Bike-Piloten wie René und Robert kommen hier mehrheitlich ins Fahren. Doch bald wird das Gelände ein wenig flacher. Und während ich am Vormittag mit der Sinnhaftigkeit dieser Tour gehadert habe, kehren langsam das Selbstbewusstsein und die Freude am Biken zurück. 

Mit jedem Höhenmeter wird die Landschaft grüner, der Weg flüssiger und wir immer schneller und besser gelaunt. Ab der Furggalp ist sogar Flow pur angesagt und wir machen in fünf Minuten so viel Strecke wie zuletzt in einer ganzen Stunde. Auf der Karte sah das alles ganz einfach aus. In der Praxis hat sich der erste Teil der Tour extrem in die Länge gezogen. Wir müssen uns jetzt sogar beeilen. Denn wir haben für heute noch ein Ziel: die letzte Bahn nach Hohsaas. Also runter ins Tal, rüber nach Saas-Grund und rein in die Bahn – die uns ohne einen weiteren Schweisstropfen wieder auf 3101 Metern über dem Meer ausspuckt.  
Foto: Tom Malecha
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Kontrastprogramm – hochalpines Flow-Biken im Hohsaas

Auge in Auge mit dem Triftgletscher

Dort oben beginnt ein knapp 1600 Höhenmeter langer, und sogar ganz offiziell als Bike-Trail ausgeschriebener Run zurück ins Saastal. Und obwohl man sich hier mitten im Hochalpinen befindet, Auge in Auge mit dem monumentalen Triftgletscher, ist die Abfahrt äusserst flüssig. Die Trail-Crew hat ganze Arbeit geleistet, störende Felsbrocken beiseite geräumt, Steinplatten aufgeschichtet und auch sonst alles Menschenmögliche getan, um den Berg bikebar zu machen.  

Endlich einmal kann man die Bremse öffnen. Der Trail ist weitestgehend einfach zu fahren, immer wieder bieten sich imposante Blicke auf Gletscher, Berge und Tal. Wir passieren die Weissmieshütte, fahren auf einem schmalen Trail auf der Gletschermoräne. Bis wir schliesslich wieder den Lift am Kreuzboden erreichen. Hier ändert sich der Charakter: Es beginnt der neu gebaute Flowtrail, der sich wie eine grosse Murmelbahn talwärts schlängelt. Immer wieder laden kleine Tables und Kanten zum Abziehen ein. Und obwohl ich erklärtermassen kein Freund von geshapten Trails bin – das hier macht Spass, umso mehr als Kontrastprogramm zu dem mühsamen Rumpeln und Stolpern am Morgen.
Foto: Tom Malecha
Saastal alpin gerade noch tragbar
1600 Tiefenmeter Flow-Erlebnis in hochalpinem Gelände – der Hohsaas-Trail zählt zu den Highlights im Saastal und ist für jedermann befahrbar.

Ohne Schweiss kein Preis?

Irgendwann ist auch dieser Kurvenrausch zu Ende. Die Unterarme brennen, das Grinsen ist breit. Und als schliesslich die Bremsscheiben wieder abgekühlt und alle High-Fives verteilt sind, stellen wir uns die Frage: Was ist denn jetzt eigentlich besser?  

Der erste Teil der Tour ist ein beschwerliches Abenteuer. Eine Herausforderung, bei der man sich jeden Tiefenmeter mühsam verdienen muss, nur um festzustellen, dass die Abfahrt fast noch beschwerlicher ist. Es ist keine Bike-Tour in dem Sinne. Sondern eher eine Alpin-Wanderung, bei der man je nach Passage vom Velo unterstützt oder behindert wird. Dafür haben wir nun aber ein grandioses, einsames Naturerlebnis im Portfolio. Ein Abenteuer, bei dem jeder flüssig gefahrene Tiefenmeter zu einem kleinen Glückserlebnis wird. 

Der zweite Teil? Das ist Konsum-Biken pur. Ohne jede Anstrengung bekommt man eine tolle Abfahrt von fast 1600 Höhenmetern auf spassigen Trails geschenkt. Aber in der Kombination ist es eine Unternehmung, die einem vor Augen führt, wie vielfältig der Mountainbike-Sport doch ist. Das eine ist mehr «Mountain», das andere mehr «Biken». Und beides hat seinen Wert.

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