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Plädoyer für die Neugierde: Mountainbiken im Tessin

Text: Tom Malecha | Foto: Tom Malecha
08.04.2024
Kanton der Entdeckungen – kaum eine Region der Schweiz bietet so viel Raum für Mountainbike-Entdeckungen wie das Tessin. Doch wagemutige Forschungsreisende seien gewarnt: Zahlreiche Trails im Tessin sind fahrtechnisch anspruchsvoll. No-Flow-Country, das man nur mit ausreichend Fahrtechnik und reichlich Federweg bereisen sollte. Und der gesunden Bereitschaft, auch einmal zu schieben oder zu tragen – was ich als Fotograf bei diesem Shooting oft genug getan habe. 

Zwei Tage war ich dort auf mir unbekannten Singletrails unterwegs, um zusammen mit Robert Portmann und Sandra Keller abseits der bekannten Klassiker am Monte Gambarogno, Monte Tamaro und rund um die Cardada auf Explorationstour zu gehen. Dabei haben wir festgestellt: In der Schweizer Mountainbike-Landkarte gibt es noch viel zu entdecken.

Wir leben in einer Zeit, in der es kaum noch weisse Flecken auf der Mountainbike-Karte gibt. «Terra incognita» – das war einmal. Trailforks, Komoot, Supertrail Maps – jeder Weg, jeder Trampelpfad wurde schon gefahren, getrackt, bewertet und kommentiert. Wer von Natur aus Überraschungen gerne vermeidet, kann sich im Vorfeld einer Tour ausführlich informieren und weitestgehend sicherstellen, dass sie die Erwartungen erfüllt. Aber ich wage zu sagen: Wer jede Tour minutiös plant und aus Prinzip nur Fünf-Sterne-Trails fährt, verpasst etwas: das grosse Erlebnis der kleinen Entdeckungen.

Das grosse Versprechen

Es hat etwas Magisches: Wenn am Anfang einer Tour kein vorgefahrener GPS-Track steht, sondern das verheissungsvolle Versprechen einer gestrichelten Linie auf der Karte. Wer auf diese Weise eine Tour plant, den erwartet das grosse Unbekannte. Du fährst los, nicht wissend, ob sich die Zickzack-Linie auf der Karte als garstige Schiebepassage oder fahrbarer Serpentinen-Leckerbissen herausstellt. Klar, manchmal will auch ich einfach essen, was ich mir auf der Speisekarte ausgesucht habe. Aber ich bin der Meinung: Ein Gourmet lässt sich überraschen, von dem, was der Koch auftischt. Früher war es ja eigentlich immer so. Damals, in der Steinzeit des Mountainbikens, bevor es Internet, Apps und GPS-Tracking gab. Wir sind einfach losgefahren, mit einer Landkarte in der Tasche und einem erwartungsvollen Kribbeln im Bauch. Jede Tour war auf ihre Art ein Risiko. Werde ich belohnt für den mühevollen Aufstieg? Oder werde ich schieben, bergauf wie bergab? Mit dem Erfolg von digitalen Angeboten wie Trailforks & Co. ist diese Form der Tourenplanung bei den meisten in Vergessenheit geraten. Und ich sage: Das ist irgendwie schade.
«Es ist immer ein gutes Zeichen, wenn man mit dem Mountainbike unterwegs ist – und es kommen einem Kletterer entgegen», scherzt Robert, als uns zwei mit Seilen und Expressen bepackte Alpinisten begegnen. Der Trail von der Alpe Vegnasca ins Maggiatal ist extrem anspruchsvoll. Aber Robert Portmann beweist das Gegenteil: «Klar, der Trail ist technisch. Aber die Sturzzone ist perfekt. Da kann man einfach mal probieren. Und wenn's nicht klappt, springst du einfach ab.» – Robert Portmann
Wer sein Mountainbike kurz auf den Monte Gambarogno (1734 m) trägt, wird mit einem Wahnsinns-Ausblick und etlichen lohnenden Abfahrtsvarianten belohnt.
Foto: Tom Malecha
Eine Mountainbikerin an einem Gipfelkreuz und im Hintergrund ein See.
Wer sein Mountainbike kurz auf den Monte Gambarogno (1734 m) trägt, wird mit einem Wahnsinns-Ausblick und etlichen lohnenden Abfahrtsvarianten belohnt.
Hike´n Bike: Ein gelebtes Motto im Tessin.
Foto: Tom Malecha
Eine Mountainbikerin trägt ihr Bike
Hike´n Bike: Ein gelebtes Motto im Tessin.
Wieso immer nur direkt zur Bassa di Indemini? Im Aufstieg zum Monte Tamaro.
Foto: Tom Malecha
Ein Mountainbiker auf einem Bergkamm.
Wieso immer nur direkt zur Bassa di Indemini? Im Aufstieg zum Monte Tamaro.

Anrecht auf Supertrails?

Ob eine Tour «gut» ist – oder sagen wir lieber: als «gut» erfahren wird –, hat schliesslich immer auch mit der Erwartungshaltung zu tun. Wurde mir ein Traum-Trail versprochen, will ich bitteschön auch einen solchen fahren. Und wehe, wenn nicht! Kurioserweise neigen wir Menschen dazu, positive Überraschungen als weitaus toller und beglückender zu empfinden als positive Erfahrungen, mit denen wir gerechnet haben. Habe ich mich im Vorfeld bestens vorbereitet, recherchiert und alle Kommentare und Bewertungen verglichen – dann leite ich daraus fast schon ein Anrecht ab. Ein Anrecht auf eine Erfahrung der Superlative. Dieses Plädoyer für die Neugierde ist gleichzeitig ein Aufruf, einfach mal loszufahren und sich überraschen zu lassen. Wenn du das noch nie getan hast, dann wirst du feststellen: Es hat etwas enorm Befriedigendes, mitzuerleben, wie sich eine wilde Idee in ein reales Erlebnis verwandelt. Am Anfang ist die gestrichelte Linie. Und mit jedem gefahrenen Meter wird sie zu einer realen Erfahrung – und letzten Endes zu einer wertvollen Erinnerung.
«Eigentlich bin ich eher jemand, der lieber die Kontrolle hat. Ich weiss gern, was auf mich zukommt.» Sandra Keller ist mit dem Mountainbike oft auf den gepflegten Trails in Graubünden unterwegs. Heute tragen wir gemeinsam unsere Velos auf einen steinigen Tessiner Gipfel, auf «No-Flow-Mission». In der Abfahrt folgen wir einem Weg, der im Mountainbike-Universum ein Geheimtipp ist und auf den einschlägigen Plattformen nicht zu finden ist. Oben ist der Trail technisch fordernd, wir schieben das eine oder andere Mal. «Für mich ist das perfekt so», erklärt Sandra Kelller, «ich liebe es, neue Trails zu entdecken. Technische Passagen wecken meinen Ehrgeiz. Und oft lohnt es sich, die gleiche Stelle auch zweimal zu fahren.» – Sandra Keller 

Konsumieren oder explorieren?

Oft ist es so: Ist eine Tour erst einmal publiziert, kommt man gar nicht auf die Idee, den Trail links oder rechts daneben auszuprobieren. Man vertraut blind darauf, dass der Tourenautor die beste Wahl getroffen hat. Dabei ist es oft so, dass die Variante eigentlich viel spannender ist als der GPS-Track, dem alle folgen. 

Schliesslich ist da ein weiterer spannender Aspekt: Wie viele flowige Trails bist du schon gefahren, wie oft ist auf Touren alles glatt gegangen – und dann sind diese Erlebnisse verschwunden, im Nirwana der «Schön war’s»-Erinnerungen? Aber Abenteuer beginnen dort, wo die Pläne scheitern. Und die meisten Touren-Fahrer steigen auf ihr Bike, um etwas zu erleben. Etwas, an das sie sich erinnern werden. Von dem sie erzählen können. So gesehen kannst du gar nicht scheitern. Denn immer dann, wenn es richtig anspruchsvoll wird. Wenn du gelegentlich vor dich hinfluchst, weil du dein Bike schon wieder auf den Schultern buckelst oder der anspruchsvolle Downhill dich bis zum Letzten fordert – sind das nicht genau die Momente, die dir in Erinnerung bleiben? Von denen du Jahre später noch erzählst? Die Amerikaner nennen das «Type II Fun». Gemeint sind Erlebnisse, bei denen man sich im Moment vielleicht ganz elend fühlt. Die aber immer witziger werden, je öfter man davon erzählt.

Was hast du zu verlieren?

Wer etwas erleben will, muss auch etwas riskieren. Wie sagen es die Angelsachsen so schön? «You don’t know, if you don’t go.» Und was hast du zu verlieren? Vermutlich nur ein paar Stunden deines Wochenendes – und das ist zu verschmerzen, in Relation zu dem, was du dabei gewinnen kannst. Und so sei jedem geraten: Probiere es aus! Schnapp dir dein Bike, such dir eine gestrichelte Linie. Und mach sie zu deinem ganz persönlichen Abenteuer. Und ich verspreche dir, es lohnt sich!

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