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Tessin Kulinarik: Bike, Eat - Repeat

Text: Günter Kast
16.08.2022
Zuerst Höhenmeter fressen, dann Trails rocken und es sich anschliessend guten Gewissens schmecken lassen. In den Tälern und Dörfern des Tessins warten kulinarische Schätze, die man am besten mit dem Mountainbike hebt. Willkommen im Schlaraffenland der Schweiz!
Antonio Ferriroli legt Buchenholz nach. Fett tropft auf den Rost, die Cicitt duften verführerisch. Wenig später stehen die Ziegenwürste mit frischem Brot und Zichorien-Salat auf dem Tisch. Ein einfaches Essen. Und einfach köstlich. Später wird er noch Wildfleisch-Pastete, Papardelle mit Tauben-Ragout und Ossobuco vom Hirsch auftragen. Dazu eine Flasche 2017er Quattromani, eine exklusive Merlot-Cuvée. Leben wie Gott im Ticino! Antonio war Kfz-Mechaniker, Polizist. Als Gastgeber und Koch seines Ristorante in Brione sopra Minusio nahe Locarno hat er seine Berufung gefunden. Slow Life. Slow Food. In seinem Lokal, das er in vierter Generation führt, veranstaltet er im November Ziegen-Wochen. Dabei dreht sich alles um Rezepte rund um die «Capra Nera», jene schwarze Ziegenrasse aus dem nahen Valle Verzasca. «Die solltet ihr euch morgen unbedingt in Natura anschauen», sagt Antonio.
Die Kastanienwälder im Malcantone sorgten früher für das «Brot der armen Leute».
Foto: Alex Buschor
Tessin Kulinarik: Bike, Eat - Repeat
Die Kastanienwälder im Malcantone sorgten früher für das «Brot der armen Leute».
Ein guter Rat. Nach der Völlerei müssen wir dringend Kalorien verbrennen. Zudem lässt sich ein Besuch auf der «Azienda Agricola La Ghironda» perfekt in eine MTB-Runde in das Verzascatal integrieren. Als wir die Velos abstellen und den Trail zum Hof von Mariapia Bisi und Gabriele Giottonini hinaufsteigen, begrüssen uns die Hunde. Sie wachen über rund 80 Ziegen, 30 Schafe und einige Schweine. Während Mariapia Wasser für den Espresso aufsetzt, erzählt sie von ihren schwarzen Schützlingen.Ziegen zu essen sei aus der Mode gekommen. Wenn überhaupt, wollten die Leute nur zartes Fleisch vom Zicklein. Was aber tun mit den Muttertieren, die mehrere Male trächtig waren und keine Milch mehr geben? «Einige stürzen ab, einige gehen zum Sterben in den Wald. Die anderen schlachten und verwursten wir direkt hier auf dem Hof», erzählt Mariapia. Damit tragen die beiden ihren Teil dazu bei, dass die Tradition der Cicitt-Herstellung nicht in Vergessenheit gerät. Die würzigen Würste gehören zu den sogenannten «Presidi». Solche Produkte und Projekte werden von der Slow-Food-Stiftung betreut, um die Erzeuger lokaler Lebensmittel zu unterstützen.
Mit den rauen Bedingungen im Gebirge kommen Ziegen am besten zurecht. 
Foto: Remy Steinegger
Tessin Kulinarik: Bike, Eat - Repeat
Mit den rauen Bedingungen im Gebirge kommen Ziegen am besten zurecht. 
Die schwarze «Capra Nera» ist besonders zäh – und Basis für die saftigen «Cicitt».
Foto: Shutterstock
Tessin Kulinarik: Bike, Eat - Repeat
Die schwarze «Capra Nera» ist besonders zäh – und Basis für die saftigen «Cicitt».
Apropos: Kann man als Ziegenbauer überhaupt noch überleben? Mariapia und Gabriele zucken mit den Schultern. Wegen Geld mache man den Job nicht. Sie lieben ihr einfaches Leben. Sie kennen jede Ziege mit Namen. Sie zeigen Kindern, wo die Lebensmittel herkommen. Vermieten ein Rustico. Veredeln Ziegenkäse mit Basilikum, Pfeffer oder Koriander. Stellen Trockenfleisch und Salametti her. Und natürlich Cicitt.

Die Renaissance der Kastanie

Früher galt die Kastanie als «Brot der armen Leute». Auf ihre Spuren begibt man sich am besten auf einer Bike-Tour durch das Malcantone. In den Hügeln hinter Lugano lässt sich auf flowigen Trails durch endlose Laubwälder cruisen. Vor allem im Herbst ist das auch ein optischer Genuss. Tafeln auf dem «Sentiero del Castagno» informieren über den Kastanienwald, die Verarbeitung des Holzes und der Früchte. Man erfährt, dass die glänzenden Kugeln ab dem 19. Jahrhundert von Mais und anderen Getreidearten vom Speiseplan verdrängt wurden.
Im Malcantone ist die Kastanie überall: auf dem Trail, im Essen und im Bier. Wer ihr entkommen will, findet im lokalen Wein eine mehr als valide Alternative.
Foto: TVB Ascona Locarno
Tessin Kulinarik: Bike, Eat - Repeat
Im Malcantone ist die Kastanie überall: auf dem Trail, im Essen und im Bier. Wer ihr entkommen will, findet im lokalen Wein eine mehr als valide Alternative.
Die Kastanie galt früher als das Brot der armen Leute. Heute ist sie auch Bestandteil manch lokalen Feinschmecker-Menüs.
Foto: Günter Kast
Tessin Kulinarik: Bike, Eat - Repeat
Die Kastanie galt früher als das Brot der armen Leute. Heute ist sie auch Bestandteil manch lokalen Feinschmecker-Menüs.
Heute besinnt man sich wieder auf Kastanien – vor allem in flüssiger Form. Die Tessiner brauen daraus Kastanienbier, das seinen Ursprung auf Korsika hat. Die Geschmacksrichtung «Castagna» bietet etwa die Birrificio Terra Matta in Sagno an, noch dazu in Bio-Qualität. Wir kehren nach unserem Castagno-Giro in der «Officina della Birra» in Bioggio ein, die fast auf dem Weg unserer «Castagno Bike Tour» liegt. Seit 1999 braut man hier schon Hopfenkaltgetränke und scheut sich nicht, lokale Produkte wie etwa Kastanienhonig unterzumischen. Das Motto: «Wir produzieren mehr als Bier, wir schaffen Emotionen.»
Die Fattoria Moncucchetto in Lugano bietet einen perfekten Ausblick über die Stadt. Dazu zählt das futuristische Gebäude von Stararchitekt Mario Botta zu den architektonischen Highlights. Der dort gekelterte Wein und die Kulinarik sind über die Grenzen des Tessin hinaus renommiert.
Foto: Milo Zanecchia
Tessin Kulinarik: Bike, Eat - Repeat
Die Fattoria Moncucchetto in Lugano bietet einen perfekten Ausblick über die Stadt. Dazu zählt das futuristische Gebäude von Stararchitekt Mario Botta zu den architektonischen Highlights. Der dort gekelterte Wein und die Kulinarik sind über die Grenzen des Tessin hinaus renommiert.
Fakt ist: So eine Bierprobe macht hungrig. Gut, dass auf uns ein besonderes Menü wartet. Wir kurbeln zur Fattoria Moncucchetto in Lugano. Ein Weingut in der Stadt? Wir staunen, denn unweit des Zentrums, doch fernab von der Hektik, befindet sich in einer Oase auf 425 Metern Höhe die Kellerei von Lisetta und Niccolò Lucchini. Was für eine Aussicht! Was für ein futuristisches Gebäude! Der Entwurf stammt von dem in Mendrisio geborenen Stararchitekten Mario Botta. Dass ihm auch die Gestaltung von Weinkellern gelingt, hat er hier eindrucksvoll bewiesen. Neben reinen Merlots keltern die Lucchinis auch Weine aus anderen Rebsorten. Das Spektrum reicht von Sauvignon Blanc bis Pinot Noir, pardon: Nero. Uns erwartet ein Menü rund um die Kastanie. Nach Ravioli mit Wildfleischfüllung, Steinpilz-Carpaccio und Kastanien, die Küchenchef Andrea Muggiano auffährt, sind wir eigentlich schon satt. Doch dann kommen ein mit Kastanien gespickter Rehrücken, und zum Dessert ein Kastanientörtchen mit Feigeneis – und glacierten Kastanien. An Biken ist danach nicht mehr zu denken. Wir schaffen es mit letzter Kraft in den Infinity-Pool der Wellness-Herberge Kurhaus Cademario Hotel & Spa.

Die Transalp del Vino

Im Mendrisiotto, dem Südzipfel des Tessins, dominiert der Wein. Bei unserer lockeren 700-Höhenmeter-Runde namens «Piana del Laveggio Bike» fühlen wir uns, als rollten wir durch die Toskana. Wir starten am Südende des Luganer Sees, fahren am Flüsschen Laveggio entlang, bewundern die Weinberge am Fuss des Monte San Giorgio. Herrlich entspannend ist das. Was man nicht alles entdecken kann, wenn man nicht mit 25 Prozent steilen Rampen, Geröll und S3-Trails kämpft! Als wir nach 33 Kilometern in Mendrisio vom Velo steigen, haben wir viel Energie übrig. Die werden wir brauchen, denn eine Degustation bei Valsangiacomo, dem ältesten Weinkeller im Tessin, ist ein echter Marathon!
«Slow Biking» spart Energie, die man bei einer Weindegustation gut gebrauchen kann.
Foto: Alex Buschor
Tessin Kulinarik: Bike, Eat - Repeat
«Slow Biking» spart Energie, die man bei einer Weindegustation gut gebrauchen kann.
Das Mendrisiotto, ganz im Süden des Tessins, wird vom Weinanbau geprägt.
Foto: Günter Kast
Tessin Kulinarik: Bike, Eat - Repeat
Das Mendrisiotto, ganz im Süden des Tessins, wird vom Weinanbau geprägt.
Uberto Valsangiacomo ist Präsident der Tessiner Winzer und führt die Geschäfte des Weinkellers in sechster Generation. Er erzählt uns, wie 1831 alles begann. Zunächst hatte man nur mit Wein gehandelt, erst ab 1900 kamen eigene Trauben in die Fässer. «Lange kelterten wir bestenfalls mittelmässige Weine», räumt Uberto ein. «Ein saures Zeug, das man gegen den Durst trank. Tessiner Merlot war damals nicht mehr als ein Bauernwein». Dann leitete Ubertos Vater Cesare die Wende ein, als er mit frischen Ideen von der Önologie-Fachschule zurückkam. Er kaufte Grund auf den besten Terroirs und investierte in moderne Technik. Heraus kam 1957 der «Roncobello», der als Ur-Merlot des Tessins gilt.  

Eines der grössten Highlights des experimentierfreudigen Winzers kommt jedoch aus dem Gotthard-Massiv. Oberhalb von Airolo befindet sich eine Festungsanlage des Schweizer Militärs, die zum Teil bereits in ein Museum umgewandelt worden war. Die Winzer hatten das Glück, auf einen Offizier mit Weitblick zu treffen. Oberst Urs Caduff, damals Chef des Forte, nahm Haltung an, als er das Begehren der Merlot-Experten vernahm. «Herr Valsangiacomo, das machen wir!» Seither reift der «Gransegretto Forte Airolo Merlot Riserva» in Barrique-Fässern auf 1300 Metern Höhe im Inneren des Berges. Der erste Jahrgang wurde in Holz-Kassetten ausgeliefert, in denen sonst Handgranaten lagerten. Ein reiner Marketing-Gag? «Von wegen», erklärt Uberto. «Bei acht Grad und einem deutlich niedrigeren Luftdruck geht die Reifung langsamer vonstatten. Dadurch überlagern die Frucht-Aromen die Holz-Töne.»

Die letzte Mühle

Unsere letzte Bike&Eat-Tour führt uns ins Valle di Muggio. Wir wollen an der Ostflanke des Monte Generoso einige knackige Trails fahren – und dabei mehr über das «Rosso del Ticino» erfahren, jenes rötliche Maismehl, für das der Kanton berühmt ist. Ganz hinten im Tal betreibt Familie Piffaretti die Osteria Manciana. Wer wissen will, wie eine Polenta aus diesem Mehl schmecken muss, sollte dort einen Tisch reservieren. Stundenlang köchelt der Maisbrei in einem Kupferkessel. Die unteren Schichten dürfen ruhig etwas anbrennen. Das sorgt für die goldgelbe Farbe und noch mehr Geschmack. Die Polenta ist die perfekte Beilage für ein wunderbar zartes Ossobuco, das fast von selbst vom Markknochen fällt.
Gerösteter Mais, feinst gemahlen, ist die Grundlage des berühmten «Farina Bóna». Eine Polenta aus diesem Mehl ist die perfekte Kraftnahrung.
Foto: TVB Ascona Locarno
Tessin Kulinarik: Bike, Eat - Repeat
Gerösteter Mais, feinst gemahlen, ist die Grundlage des berühmten «Farina Bóna». Eine Polenta aus diesem Mehl ist die perfekte Kraftnahrung.
Gemahlen wird der Polenta-Mais in der Mühle von Bruzella, wo Irene Petraglio seit 25 Jahren als Müllerin arbeitet. Irene ist im Muggiotal aufgewachsen, zu einer Zeit, als alle anderen wegwollten: «In den 60er-Jahren gingen viele nach Chiasso, wo es Jobs und Wohnungen mit WC gab», erinnert sie sich. Heute schätzten viele die Lebensqualität und Ruhe im Tal. «Bruzella wächst wieder. Es kommen Junge und bauen Häuser.» Sie interessieren sich für die alten Traditionen, die regionalen Produkte. Und freuen sich über eine der letzten mit Wasserkraft angetriebenen Mühlen. «Früher hatte jedes Dorf eine eigene Mühle, heute bin ich die einzige Müllerin weit und breit.» Irene erklärt uns die Vielzahl an Polenta-Maissorten. Die rote schmecke nussig und passe gut zu Fisch, etwa Zander aus dem Lago Maggiore. Die weisse Sorte munde hervorragend zu weissem Fleisch. «Und die Farina bóna?», fragen wir Irene. «Da seid ihr im falschen Tal. Das ist ein traditionelles Produkt des Valle Onsernone.» Die Farina bóna wird durch das feine Mahlen von gerösteten Maiskörnern gewonnen. Früher war das Mehl, vermischt mit Milch, Wasser oder Wein, Teil der Alltagskost der Onsernonesi. Nachdem die letzten Müller des Onsernone-Tales aufgegeben hatten, kam die Produktion Ende der 60er-Jahre zum Erliegen. Inzwischen verhalfen Initiativen wie die Slow-Food-Bewegung dem Mehl zu neuer Wertschätzung, sodass es sich lohnte, die Mühle von Loco zu restaurieren.
Dass das «gute Mehl» kein reines Arme-Leute-Essen ist, beweist das Restaurant La Fontana in Locarno. Chefkoch Carlo Greppi serviert dort ein Menü, bei dem auf jedem Teller das geröstete Maismehl eine Rolle spielt: mal eine tragende, wie bei den Farina-bóna-Tagliatelle mit Luganighetta-Ragout; mal eine Nebenrolle wie beim Gams-Tataki, mariniert mit Trauben aus dem eigenen Grotto und einem an Popcorn erinnernden «Farina-bóna-Crumble». Als Signore Greppi dann zum Dessert noch eine Mousse aus dem Röstmehl mit Ratafià-Eis auftischt und einen Grappa dazustellt, streichen wir die Segel. Wir glauben es ihm auch so, dass das Tessin eine kulinarische Schatzkammer der Extraklasse ist!

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